Rheinische Post Langenfeld

Grüne reden sich ihre Krise schön

- VON REINHARD KOWALEWSKY UND THOMAS REISENER

Die Umfragewer­te sind im Keller, die Machtoptio­nen brechen weg. Die NRW-Grünen haben keinen Plan, wie sie die Stimmung drehen wollen. Spitzenkan­didatin Löhrmann will sich in eine Minderheit­sregierung retten.

DÜSSELDORF Auf dem Weg zu ihrem Fraktionss­aal waren die meisten der 29 grünen Abgeordnet­en gestern Morgen um kurz vor 10 Uhr sichtlich niedergesc­hlagen. Bemühte Freundlich­keit, hölzerner Small Talk auf den Landtags-Fluren. Allen war klar: In wenigen Minuten würde Fraktionsc­hef Mehrdad Mostofizad­eh die vielleicht schwärzest­e Sitzung eröffnen, die das grüne Landtagste­am seit Gründung der rot-grünen NRW-Koalition vor sieben Jahren über sich ergehen lassen musste.

Sieben Prozent. Mehr bringt die Regierungs­partei der jüngsten Umfrage zufolge nicht auf die Waage. So wenig Zustimmung hatten die NRW-Grünen zuletzt vor neun Jahren. Aber auch eine halbe Woche nach dem desaströse­n Umfrageerg­ebnis und drei Monate vor der Landtagswa­hl zeigte die Fraktionss­itzung gestern: Die Partei hat keine echte Antwort darauf. Sie will weder Themen noch Personen austausche­n. Dem Vernehmen nach hat die Berliner Agentur Wigwam, die den Wahlkampf des grünen Ministerpr­äsidenten Winfried Kretschman­n in Baden-Württember­g organisier­t hat, davon abgeraten.

Nur eins soll sich ändern: „Wir müssen wieder sichtbar werden“, fasst ein Teilnehmer die dünne Bilanz der Sitzung zusammen. In der öffentlich­en Wahrnehmun­g sehen die Grünen sich derzeit um Aufmerksam­keit betrogen. Auf der einen Seite vom Hype um den neuen SPD-Spitzenkan­didaten Martin Schulz, der nach ihrer Meinung derzeit die komplette Aufmerksam­keit der rot-grünen Klientel absorbiert. Auf der anderen Seite registrier­t die Fraktion, wie ein zunehmend an Format gewinnende­r CDU-Spitzenkan­didat Armin Laschet und das FDP-Phänomen Christian Lindner ihnen die Show stehlen.

Dazwischen sehen sich die Grünen, gefesselt an ihre Kernthemen wie Frauenquot­e und NRW-Klimaschut­zplan. Themen, die das Publikum in Zeiten des Terrors aber kaum interessie­ren. „Ein relevantes Alleinstel­lungsmerkm­al haben wir derzeit nur mit unserer glasklaren Position gegen den Flughafena­usbau in Düsseldorf“, räumte gestern ein Fraktionsm­itglied ein. Ideen für ein optimierte­s Themen-Portfolio setzten sich Teilnehmer­angaben zufolge gestern nicht durch. Trotz ihrer desolaten Lage verabredet­en die Grünen sich aber darauf, wenigstens nach außen Optimismus auszustrah­len.

Spitzenkan­didatin Sylvia Löhrmann versuchte nach Kräften, das noch am selben Tag bei einer Pressekonf­erenz umzusetzen. Eigentlich ging es dabei um das Thema Schule. Aber Löhrmann wollte mit Blick auf die jüngsten Umfragewer­te unbedingt loswerden: „Uns versetzt das nicht in Schockstar­re. Das sehe ich vielmehr als Weckruf.“Fakt sei, dass laut derselben Umfrage 48 Prozent der Bürger in NRW eine rot-grüne Koalition als nächste Regierung befürworte­n würden – mehr als jede andere denkbare Konstellat­ion.

Mit ausgestrec­ktem Finger erinnerte Löhrmann an die rot-grüne Minderheit­sregierung zwischen 2010 und 2012. „Ich wollte diese Minderheit­sregierung“, sagte sie. Man habe damals eine Reihe guter

Sylvia Löhrmann Entscheidu­ngen mit wechselnde­n Mehrheiten getroffen. „Ich schließe nicht aus, erneut eine Minderheit­sregierung zu bilden.“

Den Schulz-Hype, der kurz zuvor in der Fraktionss­itzung offenbar noch problemati­siert worden war, verkaufte Löhrmann bei der Pressekonf­erenz plötzlich als Chance: Der „Schulz-Effekt“, wie sie ihn wörtlich nannte, mache eine rot-grüne Koalition auf Bundeseben­e möglich. „In Berlin wollen wir die nächste Regierung mitbilden“, sagte sie und schloss dort ein Bündnis mit den Linken nicht aus.

In NRW sei hingegen ein Hauptziel, die „Linke aus dem Landtag rauszuhalt­en“. Bürger, die eine sozialere Politik wollten, seien bei den Grünen gut aufgehoben. Die Sondierung­sgespräche 2010 mit den Linken seien in NRW „ernüchtern­d“gewesen. Offensicht­lich reagierte Löhrmann mit ihrer Skepsis gegenüber der Linken auch auf ein Nebenergeb­nis der jüngsten Umfrage: Drei-Parteien-Bündnisse lehnen die meisten Wähler in NRW derzeit ausdrückli­ch ab.

Trotzdem liebäugelt­en auch gestern wieder mehrere Abgeordnet­e mit einer schwarz-gelb-grünen Jamaika-Koalition. Die könnte es der Umfrage zufolge derzeit rechnerisc­h auf eine hauchdünne Regierungs­mehrheit bringen. Die lauten Bedenken von FDP-Chef Christian Lindner gegen ein Bündnis mit den Grünen nehmen diese nicht allzu ernst. „Vielleicht gibt es ja erst mal eine Minderheit­sregierung, und wenn der Lindner dann nach Berlin wechselt, verhandelt es sich mit der FDP auch leichter“, so ein Mitglied des Parteivors­tandes.

Zunächst aber hoffen die Grünen auf den kommenden Sonntag. Dann will der WDR die Ergebnisse einer neuen Wählerumfr­age veröffentl­ichen.

„Uns versetzt das nicht

in Schockstar­re. Das sehe ich vielmehr

als Weckruf“ Grünen-Spitzenkan­didatin in NRW über

die jüngsten Umfragewer­te

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