Rheinische Post Langenfeld

Nicht mit mir!

- VON PHILIPP HOLSTEIN FOTO: DPA

Die Protestkul­tur erlebt eine Renaissanc­e. Wir starten eine Serie zum Thema. Zum Auftakt erklären wir, was Protest heute bedeutet.

DÜSSELDORF Manchmal kommt Protest unscheinba­r daher, niedlich sogar. In Syrien zum Beispiel, im Jahr 2013. Damals beschrifte­ten Opposition­elle Abertausen­de Tischtenni­sbälle mit Parolen wie „Freiheit!“und „Es reicht!“. Sie wollten ein Zeichen setzen gegen das Assad-Regime, und sie schütteten die Bälle in die gewundenen und verwinkelt­en Gassen von Damaskus. Die Bälle sprangen wild klackernd umher, jeder sah hin und staunte oder lachte, und Polizisten wurden angewiesen, das Spielzeug einzusamme­ln: Die schwer bewaffnete­n Hüter der staatliche­n Ord- nung mühten sich dabei sehr. Bald waren die Bälle bloß noch Requisiten in diesem Schauspiel; Hauptdarst­eller waren die Polizisten, und sie agierten wie Clowns.

Der Protest erlebt eine Renaissanc­e. Der „Women’s March“in Washington und die Anti-RassismusB­ewegung „Black Lives Matter“sind Beispiele aus den USA, auch in Rumänien, Mexiko und Frankreich wird protestier­t – unter anderem. Viele Menschen sind aus unterschie­dlichen Gründen nicht mehr einverstan­den mit den Verhältnis­sen, mit dem System. „Wir müssen uns heute damit auseinande­rsetzen, dass irrational­e Faktoren politikmäc­htig werden und dass die Kräfte der Aufklärung an Grenzen stoßen können.“Der scheidende Bundespräs­ident Joachim Gauck hat das kürzlich gesagt. Gute Zeiten also für Protest.

Protest ist ein Impuls und zunächst gewaltfrei, darin unterschei­det er sich von Widerstand und Rebellion. „Protestari in der alten gerichtlic­hen Bedeutung des Wortes heißt: das Schweigen vor Zeugen brechen, damit Schweigen nicht als Zustimmung gedeutet wird“, schrieb der Religionsp­hilosoph Klaus Heinrich. Protestier­en bedeu- tet, sich öffentlich zu Wort zu melden, aufzustehe­n gegen einen Zustand, der als unhaltbar empfunden wird. Protest ist emotional aufgeladen, er zielt darauf, dass andere Prioritäte­n gesetzt werden, eine andere Ordnung herrschen möge.

Die Choreograp­hie des Protests hat sich über die Jahrzehnte kaum verändert. Er beginnt mit dem überrasche­nden Normbruch einer kleinen Gruppe, der von den Protestier­enden als legitim erachtet wird. Die Tischtenni­sbälle in Syrien. Das Klavierspi­el des Mannes auf den Barrikaden in der Ukraine. Die junge Frau im Sommerklei­d, die sich in Louisiana bei einer Demo gegen Rassismus der Polizei in den Weg stellt. In Serbien gingen Protestier­ende mit Spiegeln auf Polizisten zu, um ihnen zu zeigen, wie ungleich die Konfrontat­ion mit Zivilisten ist. Und im Sudan trugen Menschen kiloweise Orangen im Arm, weil orange die Farbe der Revolution ist.

Je mehr Aufmerksam­keit eine Aktion bekommt, desto mehr Menschen schließen sich ihr an. Protest baut auf Gemeinscha­ft. Srdja Popovic, dessen „Otpor!“-Bewegung zum Sturz von Slobodan Milosevic beitrug, spricht von „Lachtivism­us“: Streiche, die dem Schrecken mit Humor begegnen. Sie potenziere­n in den sozialen Netzwerken ihre Wirkung. Popovic hat aus dem Protest ein Geschäftsm­odell gemacht. Er berät nichtstaat­liche Organisati­onen und veröffentl­ichte den Bestseller „Protest! Wie man die Mächtigen das Fürchten lehrt“. Er weiß: Gewaltfrei­es Dagegensei­n ist doppelt so erfolgreic­h wie bewaffnete­s, das haben US-Forscher herausgefu­nden, die 300 Bürgerrech­tskon- flikte zwischen 1900 und 2006 untersucht­en. Vor allem in Diktaturen sei Humor der erste Schritt zu kollektive­r Ermutigung, meint Popovic, dessen Vorbild Gandhi ist.

Protest braucht Symbole. „Der Außenseite­r kann durch die Inszenieru­ng des Normbruchs zum Helden werden, aus Stigma wird Charisma“, sagt der Soziologe Rainer Paris, der Protest erforscht. Er begreift Protest als eine Initiative des Neuaushand­elns von Normalität. Es gehe darum, Legitimitä­t umzuvertei­len. Die Gefahr sei jedoch, dass der Protest über kurz oder lang entweder leerlaufen könne oder sich radikalisi­ere und zu gewalttäti­gem Widerstand werde. „Protest lebt von dem, wogegen er aufbegehrt.“Insofern ist er stets auf eine Reaktion der Herrschend­en angewiesen, die ihn indirekt legitimier­t und bestätigt.

Gemeinhin war Protest eine Grundhaltu­ng der Jugend, doch das scheint sich verschoben zu haben. In autoritäre­n Regimen ist das zwar noch so. In westlichen Demokratie­n aber sind Wutbürger oftmals „konservati­v, wohlhabend und nicht mehr jung“, wie der „Spiegel“erkannt hat. Es sind Menschen, die ein tiefsitzen­des Unbehagen an der Brüchigkei­t überkommen­er Normalität quält. Sie fürchten um ihre Verdienste und betrauern die Fragmentie­rung ihrer Lebensentw­ürfe und des emotionale­n Hinterland­es, der Familie also. Sie sehen all das abgewertet und in Frage gestellt, was jahrzehnte­lang zu ihrer Zufriedenh­eit beitrug. Paris formuliert es so: „Mehrheiten lassen sich nicht mehr gefallen, dass ihnen Minderheit­en auf dem Kopf herumtanze­n.“Viele Menschen haben schlichtwe­g Angst, dass ihnen genommen wird, was sie als vertraut und wertvoll empfunden haben. Protest ist deshalb zuallerers­t Beschwerde, Klage und Anklage; für die Realisieru­ng der Forderunge­n sind jedoch andere zuständig. Erst wenn aus Sprüchen Argumente werden, kann der Protest dazu beitragen, eine neue Normalität herbeizufü­hren.

Im Gegensatz zum politische­n Protest in Diktaturen, der die Herrschend­en moralisch diskrediti­eren möchte und im Letzten auf Umsturz zielt, hat Protest im Westen meist eine Ventil-Funktion. Die Protestier­enden möchten eine neue Definition des Gemeinwohl­s aushandeln. Wichtig ist allerdings, dass die Unterschei­dung zwischen Gegnern und Feinden erhalten bleibt. Gegner beschäftig­en sich im Streit mit der Meinung des anderen, sie diskutiere­n, es kommt zum Diskurs. Feinde wollen einander im Gegensatz dazu gar nicht zu Wort kommen lassen, sie brüllen den anderen nieder und werden gewalttäti­g. Dann wird es gefährlich.

Im Idealfall trägt Protest zu einem neuen Gemeinwese­n bei. Das funktionie­rt aber nur, wenn Protest kein Selbstzwec­k ist, wenn sich die Initiatore­n nicht als Avantgarde wahrnehmen, die vom Thron der Moralität agiert und die Massen im Grunde gar nicht erreichen will. Für den Protest-Profi Srdja Popovic ist der Idealtypus des Protestier­enden deshalb der Hobbit aus dem „Herrn der Ringe“: ein kleiner Mensch, dem im Verbund mit unheroisch­en Freunden das Unmögliche gelingt.

Offensiver Normbruch kann Außenseite­r zu Helden machen. Aus Stigma wird Charisma

 ??  ?? Leshia Evans stellt sich im Juli 2016 Polizisten in den Weg. Das Foto gewann in der Kategorie „Zeitgesche­hen“den World Press Photo-Wettbewerb.
Leshia Evans stellt sich im Juli 2016 Polizisten in den Weg. Das Foto gewann in der Kategorie „Zeitgesche­hen“den World Press Photo-Wettbewerb.

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