Rheinische Post Langenfeld

Niederland­e vor Schicksals­wahl

- VON PHILIPP JACOBS

Im März wählt unser Nachbarlan­d ein neues Parlament. Die Wirtschaft wächst zwar, aber unter der Oberfläche brodeln Probleme. Die Einwanderu­ng hat die Wähler zudem misstrauis­ch und die Rechtspopu­listen siegessich­er gemacht.

AMSTERDAM/DENHAAG Einige Niederländ­er werden ihren Ministerpr­äsidenten Mitte Januar einfach überblätte­rt haben. Im Gewand einer ganzseitig­en Anzeige in einigen bedeutende­n Zeitungen war ein halber Mark Rutte zu sehen, dessen Kopf sich an einen Brief anschmiegt­e, den der Premier „An alle Niederländ­er“adressiert hatte. Kernbotsch­aft des Schreibens: Seid normal oder geht.

Rutte rechnete mit denjenigen ab, die sich nicht anpassen wollen, die – wie er schreibt – andere misshandel­n, auf der Straße randaliere­n und die glauben, stets Vorrang zu haben. Ruttes Worte waren wenig konkret, aber drastisch. Eigentlich überhaupt nicht Rutte-haft. Es klang mehr nach Geert Wilders. Der Chef der rechtspopu­listischen „Freiheitsp­artei“(PVV) dominiert in den Niederland­en derzeit die gesamte politische Debatte mit seinen Hetztirade­n gegen Ausländer und Andersdenk­ende. Ob Rutte gemerkt hat, dass Wilders mit seinem Getöse Wähler generiert und deshalb Trittbrett fahren möchte? Möglich. Doch es könnte zu spät sein.

In seiner zurücklieg­enden Amtszeit widmete sich Mark Rutte nahezu ausschließ­lich der niederländ­ischen Wirtschaft – mit gewissem Erfolg. Die Staatsvers­chuldung gemessen am Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) drückte Rutte bis Ende 2016 auf knapp 62 Prozent, nach einem Hoch von 68 Prozent im Jahr 2014. In diesem Jahr soll die 60-ProzentMar­ke erreicht werden. Mit ihrem Wirtschaft­swachstum gehören die Niederland­e derzeit zur Spitze in Europa. Verglichen zum Vorjahresz­eitraum betrug das Wachstum im vergangene­n Dezember 2,4 Prozent. In anderen europäisch­en Ländern ist das Wachstum für denselben Zeitraum deutlich niedriger.

Auch dem Arbeitsmar­kt geht es auf den ersten Blick bestens. Die Arbeitslos­enquote lag Ende 2016 saisonbere­inigt bei 5,4 Prozent. Die Freude über eine Arbeitsste­lle spiegelt sich in der Kauflaune wider: Im Januar lag der Wert des Konsumklim­a-Indexes bei 13 Punkten – Höchststan­d, meldete jüngst die Statistikb­ehörde CBS.

Die Niederland­e als starker Wirtschaft­smotor? Leider nur oberflächl­ich. Der Spargedank­e von Premier Rutte lässt zwar den Staat mittlerwei­le wieder wirtschaft­lich gut dastehen, doch insbesonde­re die privaten Haushalte haben Schulden in Höhe von rund 230 Prozent der Wirtschaft­sleistung angehäuft. Es ist mit die höchste Quote in Europa und doppelt so hoch wie in Deutschlan­d. Die Hypotheken der Niederländ­er übersteige­n 100 Prozent des BIP. Dazu klettern die Immobilien­preise scheinbar unaufhalts­am in die Höhe. In der Hauptstadt Amsterdam steigen sie im Jahr durchschni­ttlich um 14,4 Prozent. Der Trend gilt vor allem für die beliebte Provinz Nordhollan­d.

Und ein genauerer Blick in den Arbeitsmar­kt relativier­t die dortige euphorisch­e Stimmung. Denn eine Million Niederländ­er sind mittlerwei­le als Solo-Selbststän­dige unter- wegs. Die Ich-AG verhilft den Beteiligte­n dabei nur in sehr seltenen Fällen zu einem Einkommen oberhalb des Niedrigloh­nsektors. Die Zahl der Beschäftig­ten mit Zeitverträ­gen ist ebenfalls enorm gestiegen. Gerade die Jugend kann nur selten auf eine Festanstel­lung hoffen.

Als Mann des Volkes hatte sich Rutte zu Beginn seiner Amtszeit inszeniert – wie wohl jeder Ministerpr­äsident vor ihm. Doch Ruttes Sparwut vernebelte seinen klaren Blick auf die tatsächlic­hen Sorgen und Wünsche seiner Landsleute. 2015 hatte Rutte eigentlich versproche­n, den kriselnden Griechen keinen Cent mehr zu geben. Er brach sein Verspreche­n. Als eine Mehrheit der Niederländ­er im Frühjahr 2016 dem Assoziieru­ngsabkomme­n zwischen der EU und der Ukraine in einer Volksabsti­mmung eine Absage erteilte, beteuerte Rutte, Volkes Willen umzusetzen. Doch kurz danach ruderte er zurück. „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir einen großen Fehler begehen, wenn wir den Prozess der Ratifizier­ung zum Entgleisen brin

gen“, schrieb er Ende Oktober in einem Appell an die Öffentlich­keit. Seitdem ist wenig passiert. Selbst die Spaltung der Gesellscha­ft durch die Flüchtling­skrise und die daraus resultiere­nde Sicherheit­sdebatte verkannte Rutte – im Gegensatz zu seinem ärgsten Widersache­r Geert Wilders, dessen PVV die Umfragen anführt und Ruttes VVD damit abgestraft hat.

Wilders setzt auf ein extremes Wahlprogra­mm: alle Moscheen schließen, den Koran verbieten, Grenzen dicht, keine Muslime mehr ins Land und Austritt aus der EU. Dass er damit jedwede Koalitions­partner verschreck­t, weiß Wilders. Aber er weiß auch, dass letzten Endes eine Regierung stehen muss. Daher drohte er bereits mit einem „Aufstand des Volkes“, wenn er als stärkste Kraft isoliert würde.

Mit der Regierungs­bildung dürfte es in diesem Jahr aber besonders schwer werden, denn die Parteienla­ndschaft war noch nie so zersplitte­rt, der Ton unter den Politikern noch nie so rau. 81 Parteien meldeten sich für die Parlaments­wahl. 31 reichten eine Kandidaten­liste ein. Aber schon jetzt sind im Parlament 17 Fraktionen vertreten. Allein aus der Protestbew­egung um das Assoziieru­ngsabkomme­n mit der Ukraine gingen zuletzt drei neue EU-kritische Parteien hervor. Als Antagonist zu Wilders entstand im Frühjahr vergangene­n Jahres die Migrantenp­artei Denk.

Auch innerhalb der politische­n Lager ist vieles im Umbruch: 104 Kandidaten für die Parlaments­wahl waren zuletzt noch bei einer anderen Partei. So mancher wechselte gar zum einstigen Erzfeind und brach mit seinen Parteikoll­egen. Rassismus-Vorwürfe sind alltäglich, die Polarisier­ung geht längst nicht mehr nur von Geert Wilders aus, wenngleich er in diesem Metier noch die unangefoch­tene Nummer eins ist.

Für die Niederland­e wird der 15. März nun also zum Schicksals­tag. Auch die Europäisch­e Union blickt angespannt auf die Wahl – sie ist die erste von drei richtungwe­isenden für das Staatenbün­dnis in diesem Jahr.

216,3

Staatsvers­chuldung Anteil am BIP in Prozent

54,8

33

15

41

56,9

24

16 13

59,3

16

4

61,6

61,9

Sitzvertei­lung in der Zweiten Kammer (150 Sitze)

14 12

38 15

11

66,4

10 10

2

67,7

5 5

67,9

Derzeit

65,1

Wahlprogno­se

433 2

2 0

2 0

Ludwig Krause

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QUELLEN: CBS, EIGENE RECHERCHE, MAURICE DE HOND | FOTO: LAIF | GRAFIK: ZÖRNER

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