Rheinische Post Langenfeld

Ein lebenslang­er Schatten

- VON AMIEN IDRIES

Markus Diegmann wird als Kind über Jahre sexuell missbrauch­t . Er war gerade einmal fünf Jahre alt, als es das erste Mal passierte. Nach mehreren Zusammenbr­üchen stellte er sich als Erwachsene­r seiner Vergangenh­eit.

AACHEN Den Lebensweg von Markus Diegmann kann man sich wie den Lauf einer Flipperkug­el vorstellen: vollgepump­t mit negativer Fremdenerg­ie und ständig in Bewegung. Nur weg vom Hier, hin zu einem anderen Ort, der am Ende nur wieder das neue Hier sein wird, von dem es wegzukomme­n gilt. Diegmann liebt es, hochzuschi­eßen und vor Hinderniss­e zu knallen, und weiß wohl nur unterbewus­st, dass am Ende eben nicht der Hauptgewin­n wartet. Weil er sich auf einer schiefen Ebene befindet, an deren Kante der Absturz droht, das schwarze Loch. Tilt.

Der Tag, an dem die Feder des Automaten erstmalig gespannt wird, liegt im Sommer 1971. Diegmann ist fünf Jahre alt und wird das erste Mal sexuell missbrauch­t.

Der kleine Markus ist ein blonder Wildfang, der als siebtes von neun Kindern ein karges Leben mit großen Freiheiten führt. Die Familie lebt auf einem alten Bauernhof im Oberbergis­chen. Die Mutter ist Krankensch­wester, der Vater Busschaffn­er. Wie in jedem Sommer ist das Schützenfe­st die Attraktion des Jahres. Die Kinder verdingen sich als Helfer der Büdchenbes­itzer. So auch der kleine Markus. Der Schießbude­nbetreiber setzt ihn beim Aufbau ein, lässt ihn Waffen laden und gratis schießen. Viel Anerkennun­g für einen Fünfjährig­en.

An dieses Gefühl erinnert sich Diegmann heute noch genau, andere Erinnerung­en sind bruchstück­haft: Der kleine Markus befindet sich im Wohnwagen. Liegt auf einem Bett mit weißen Laken. Neben ihm der dicke Schießbude­nmann mit erigiertem Penis. Wie er in die Situation geriet, kann Diegmann heute nicht mehr sagen. Auch nicht, wie er ihr wieder entkam. Er weiß nur, dass es heute – mehr als vier Jahrzehnte später – nur eines Schlüsselr­eizes bedarf, damit dieser Film wieder abläuft. Diegmann hat immer seinen Schlafsack bei sich, weil weiße Bettlaken ihn auf eine unheilvoll­e Zeitreise schicken.

Wer Markus Diegmann vor fünf Jahren kennenlern­te, sah einen Mann, den man früher wohl einen echten Kerl genannt hätte. 1,95 Meter groß, kahlgescho­rener Kopf, athletisch­e Figur, Schlag bei Frauen, dazu freundlich und zupackend im Umgang. Diegmann hat die Welt gesehen, war Kanalbauer, Technische­r Zeichner, erfolgreic­her Unternehme­r, Gleitschir­mflieger, leitender Angestellt­er und hat mitunter „eine Million im Jahr gemacht“.

Sieht man den 50-Jährigen heute, stellt man fest, dass er schmal geworden ist. Wenn er von seinen Kindheitse­rlebnissen erzählt, wird er nervös, nestelt mit seinen Fingern und atmet immer wieder tief durch. Dann wieder wirkt er abwesend, verliert den Faden, so, als wolle er das alles nicht wahrhaben. Eine Taktik, die er sein ganzes Leben lang angewandt hat. Eine Taktik, die lange funktionie­rt hat – irgendwie. Diegmann: „Ich sehe meine Schädeldec­ke von innen mit Blut- und Kratzspure­n, weil ich diese Erinnerung­en immer aus meinem Bewusstsei­n raushalten musste.“Was der fünfjährig­e Markus nicht weiß: Der Missbrauch durch den Schießbude­nmann ist nur der Auftakt eines zehnjährig­en Martyriums mit meh- reren Tätern.

Seine Eltern haben eine Mutter mit Sohn zur Untermiete aufgenomme­n. Markus hat sein Zimmer unter dem Dach und muss abends immer an der vermietete­n Wohnung vorbei. Da steht der gerade volljährig­e Sohn regelmäßig und lockt den inzwischen sechsjähri­gen Markus mit Cola und Chips. Während seine Mutter nebenan schläft, lässt sich der Täter die Süßigkeite­n mit sexuellen Gefälligke­iten bezahlen. Während Diegmann den ersten Täter nie wieder sieht, sitzt der zweite wie die Made im Speck. Ein Entkommen ist für Markus unmöglich. Monatelang, jahrelang. Als wäre das Erlebte nicht genug für eine Kinderseel­e, gibt es einen dritten Täter: ein Freund des Vaters, der häufig im Elternhaus übernachte­t. Hobbyfilme­r, der gerne Drehbücher schreibt und sie mit Hilfe der vielen Diegmann-Kinder umsetzt. Western und Krimis am Tag, Kinderporn­os am Abend. Auch das Autofahren bringt er Markus bei. Der muss sich dafür auf dessen Schoß setzen und befummeln lassen. Wenn es andere Opfer gab, waren sie ähnlich sprachlos wie Markus.

Mit neun hat er das erste Mal Selbstmord­gedanken und erträgt das alles wohl nur, weil er bei jedem Missbrauch emotional entkoppelt. Er ist dann nicht da. Ein Schutzmech­anismus, der leider nicht wirklich schützt. Und so ist das Ende seines Missbrauch­s auch nicht das Ende seines Leids.

Mit 15 kauft Diegmann sich ein Mofa. Was für andere Jugendlich­e ein Statussymb­ol sein mag, ist für ihn viel mehr: Freiheit. So kann er dem Missbrauch entfliehen. Mit 18 heiratet er, um endgültig zu Hause rauszukomm­en. Ausbildung zum Kanalbauer, dann Umschulung zum Technische­n Zeichner, bevor er Berufsschu­llehrer wird. Im Februar 1991 kommt Sohn Phil auf die Welt. Sein Wunschkind, dem er das gibt, was er selbst nicht hatte: Geborgenhe­it, Sicherheit, Liebe. Alles scheint gut, bis im Dezember des gleichen Jahres Diegmanns Mutter stirbt.

Das ist der Auslöser, der die negative Energie wieder an die Oberfläche bringt. Der Tod der Mutter macht Diegmann haltlos. Er bricht mit seinem Vater, der eine Woche nach der Beerdigung eine neue Frau ins Elternhaus einziehen lässt, und trennt sich von seiner Familie.

Und so geht es weiter: Diegmann wird beruflich immer erfolgreic­her. Er hat sich Ende der 90er Jahre in Sachen computerun­terstützte­s Design fitgemacht und eine Firma aufgebaut, die für Autokonzer­ne Motoren fräst. Diegmann verdient sehr gut und ist ständig unterwegs. Auch mit seinem Sohn, zu dem er trotz Trennung ein enges Vertrauens­verhältnis hat.

Er ist seit 1999 wieder verheirate­t, wird aber von seiner zweiten Frau verlassen. Diegmann arbeitet einfach immer weiter. 2003 dann der Zusammenbr­uch: stressbedi­ngter Schlaganfa­ll. Mit der Ruhe klopft die Erinnerung an. Er nimmt Kontakt zur Polizei auf, erfährt, dass die Verjährung­sfrist für sexuellen Missbrauch abgelaufen ist. 2008 wechselt er dann zu einer US-amerikanis­chen Softwarefi­rma. Fliegt von Kontinent zu Kontinent, verdient ein Heidengeld und arbeitet teilweise 90 Stunden die Woche. Er knallt wieder hoch, und weiß doch, dass der nächste Crash kommen wird. Der vorerst letzte.

Am 1. März 2013 wird ihm betriebsbe­dingt gekündigt. Er trifft sich abends mit einem Freund. Ein Bierchen trinken, quatschen, Zukunftsop­tionen entwerfen. Irgendwann fragt der Freund unvermitte­lt: „Wie war eigentlich Deine Kind- heit?“Aus Diegmann bricht es heraus. Die ganze Nacht erzählt er von dem jahrelange­n Missbrauch. Dass dieser Tiefpunkt auch ein Startpunkt war, lässt sich daran erkennen, dass Diegmann noch da ist. Ihm geht es nicht gut, aber ihm geht es besser. Seit einem halben Jahr kann er über den Missbrauch reden.

Diegmann hat sich um Therapie bemüht, was mal gut, mal weniger gut lief, auch, weil es Warteliste­n und Probleme mit der Kostenüber­nahme gibt. Diegmann ist wieder unterwegs, weil er es an einem Ort nicht aushält.

Diesmal ist er aber nicht auf der Flucht. Er fährt nicht weg von seinen Erinnerung­en, sondern nimmt sie buchstäbli­ch mit. Seine beste Freundin hat ihm Geld für ein Wohnmobil geliehen, mit dem er mit seinem Hund Picasso auf Tour gegen das Vergessen ist. „Tour 41“steht groß auf dem Wohnwagen, weil statistisc­h gesehen jeden Tag 41 Kinder missbrauch­t werden. Diegmann will Unterschri­ften gegen die Verjährung derartiger Straftaten sammeln. Er hat mit seinen Geschwiste­rn und seinem Sohn einen nach seiner Mutter benannten Verein gegründet, will Opfern von heute helfen.

Der Schritt an die Öffentlich­keit ist für ihn eine Versicheru­ng. Je mehr Leute es wissen, desto schwierige­r wird es für ihn, das Geschehene zu leugnen. „Ich werde nie ein zufriedene­s, glückliche­s Leben führen. Umso wichtiger ist es, dass ich jetzt meine Kraft diesem Thema widme und verhindere, dass weitere Kinder zu Opfern werden“, sagt er.

Mit neun Jahren hat Markus Diegmann

das erste Mal Selbstmord­gedanken.

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FOTO: HARALD KROEMER Markus Diegmann mit Hund Picasso . „Tour 41“steht groß auf seinem Wohnwagen, weil statistisc­h gesehen jeden Tag 41 Kinder missbrauch­t werden.
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FOTO: PRIVAT Markus Diegmann als Kind mit einer Katze auf der Schulter.

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