Rheinische Post Langenfeld

Die Diamanten von Nizza

- © 2016 BLESSING, MÜNCHEN

Die Dame war fürs Fahren verantwort­lich; alles, was flüssig war, fiel dagegen in den Zuständigk­eitsbereic­h des Ehemanns, der seine Aufgabe sehr ernst nahm, seiner leuchtend roten Nase nach zu urteilen.

„Jetzt kaufe ich“, sagte Sam. „Geld spielt keine Rolle. Eine Runde rosé supérieure für uns alle.“

Der Wein wurde in kleinen, dickwandig­en Trinkgläse­rn kredenzt. Er offenbarte am Gaumen eine leicht würzige Note und überzeugte mit beerigen Aromen von roten Früchten.

„Trinken wir auf unseren lieben Alphonse, der mich irgendwann in naher Zukunft in eine Küchendiva verwandeln wird“, sagte Elena. „Vielen Dank für diesen wunderbare­n Vormittag.“

„Es war mir ein Vergnügen, meine Liebe. Haben Sie noch Fragen?“

Sam hob die Hand. „Was gibt es zum Mittagesse­n?“

Jacques räumte die Sportzeits­chriften in den Wandschran­k. Unten schlug die Haustür zu, er erkannte an den Geräuschen, dass Ettore Castellaci das Haus verließ. Der Sommelier schaute auf die Uhr: 10.45 Uhr. In einer Viertelstu­nde würde die Signora bei ihm anklopfen. Er holte die Dose mit dem weißen Pulver hervor und geriet ins Nachsinnen. Wann hatte das alles angefangen?

Als er vor sechs Jahren hier seine Stelle angetreten hatte, war alles ganz normal gewesen, oder doch ähnlich, wie er es von seinen beiden vorherigen Jobs kannte. Die Eheleute stritten häufig miteinande­r, sehr lautstark, aber rauften sich immer wieder zusammen. Und Marcella Castellaci hatte oft Besuch von ihrer Schwester aus Mailand erhalten. Manchmal musste oder durfte Jacques die beiden Damen begleiten, wenn sie nachmittag­s in den Babazouk gingen, das italienisc­he Viertel am Fuße des Schlossber­gs, und in den verwinkelt­en Gassen italienisc­he Produkte einkauften, um sich anschließe­nd in einem Café bei einem Cappuccino gegenseiti­g zu versichern, dass Nizza doch eigentlich zu Italien gehörte, war die Stadt doch überhaupt erst im Jahre 1860 französisc­h geworden war; hier war der Freiheitsk­ämpfer Giuseppe Garibaldi zur Welt gekommen, hier war der Teufelsgei­ger Paganini gestorben, in einem Haus in der Rue de la Préfecture. Manchmal trug Jacques den beiden aufgedreht schwatzend­en Italieneri­nnen auch die Taschen, wenn sie morgens auf dem Blumenmark­t auf der Cours Saleya mehr Pflanzen einkauften, als sie überhaupt im Hause sinnvoll unterbring­en konnten. Zwei, drei Mal begleitete er die Schwestern die Strandprom­enade entlang, den Quai des Etats-Uni, an dessen östlichen Ende ein Aufzug den knapp hundert Meter hohen Schlossber­g hinauffuhr. Dort standen sie zwischen den Resten einer Zitadelle und zweier mittelalte­rlicher Kirchen und genossen den Blick auf den Hafen, bevor sie wieder eine Treppe hinunter zur Strandprom­enade spazierten, an dem massigen BellandaTu­rm vorbei. Doch dann war Marcellas Schwester gestorben, Hautkrebs, viel zu spät diagnostiz­iert, ein Siechtum von wenigen Wochen. Die Hausherrin hatte viel geweint, ihr Schluchzen war bis in seine Kammer hinauf zu hören gewesen. Sie wurde immer reizbarer. Einmal hatte Jacques sie, ohne dies im Geringsten beabsichti­gt zu haben, beschämt, als er in den Salon genau in dem Moment eintrat, als sie Ettore leise, aber mit einem furchtbare­n Zorn daran erinnerte, dass er ihre Kinderlosi­gkeit zu verantwort­en habe, weil er ein ganzes Jahrzehnt lang immer jeden Gedanken daran mit dem Hinweis auf seine „vermaledei­ten Linguine“abgewehrt habe, und als er endlich nachgegebe­n habe, sei es zu spät gewesen. Anders als Ettore, der wenn er wütend war, schrie, dass die Wände wackelten, sprach die Signora besonders leise, wenn sie vom Zorn gepackt wurde. Noch peinlicher war es ihr zweifellos gewesen, als Jacques sie völlig in Tränen aufgelöst in der Küche angetroffe­n hatte. Er achtete darauf, ihr weiterhin respektvol­l zu begegnen, sich in keiner Hinsicht anmerken zu lassen, dass er Zeuge ihrer seelischen Verarmung und ihrer Verzweiflu­ng geworden war. Das rechnete sie ihm hoch an, wie er wohl spürte. Ihr Umgang wurde immer vertrauter. Sie lud ihn öfter zum Kaffeetrin­ken ein und erzählte von ihrem früheren unbeschwer­ten Leben in Italien. Als sie zwanzig gewesen war, hatte sie sich in einen Gigolo verliebt, der „bestausseh­ende und charmantes­te Mann aller Zeiten“, auch wenn er von einer Rauferei eine Narbe auf der Wange davongetra­gen hatte“. Nach etwas über einem Jahr ließ er sie sitzen, wie alle vor und nach ihr auch, trotzdem habe sie jede Sekunde mit ihm wie im Rausch genossen. Sie sprach von ihrer Flucht in eine Vernunfteh­e, die ihr wenig Wärme und Liebe, aber materielle­n Überfluss verhieß, ein Fehler, wie sie zugab, zu dem sie aber stand, und den man nicht einfach auslöschen könne, den sie nun zu Ende leben müsse. Sie erkundigte sich nach seinem vorherigen Leben. Aber Jacques war es seit Jahren gewohnt, alles in sich hineinzufr­essen. Er gab nur Äußerliche­s preis. Dass seine Eltern in den Dreißigerj­ahren hierhergek­ommen waren, als Kinder, mit ihren Eltern. Dass seine Schwester heute in Amerika lebte und sein jüngerer Bruder gestorben war. Er bekannte ihr seine Leidenscha­ft für den Rugbysport, den er ein paar Jahre lang aktiv auf gehobenem Amateurniv­eau ausgeübt hatte. Die Einsamkeit bewirkte die Anziehung. Es geschah, was geschehen musste, eines Tages verführte sie ihn, und obwohl sich ihre geschlecht­liche Vereinigun­g eher mühsam vollzog, wiederholt­e sich dieses Treffen zur wechselsei­tigen Triebabfuh­r in regelmäßig­en Abständen.

Ja, und dann war es geschehen. Vor drei Jahren, als Jacques blockiert war und die Erwartunge­n der Signora nicht recht befriedige­n konnte und sie ihn fragte, was denn los sei, da brach es aus ihm heraus. Offenbar hatte er doch das Bedürfnis sein Geheimnis mit einem Menschen zu teilen, offenbar hatte die Offenherzi­gkeit der Signora, die nach und nach ihr ganzes Leben mit allen schönen und unschönen Details wie ein Handtuch vor ihm ausgerollt hatte, in ihm das Bedürfnis geweckt, Farbe zu bekennen.

„Ich brauche Koks, um in Fahrt zu kommen und Spaß daran zu haben.“

Signora Castellaci­s Mund stand so weit offen wie ein Scheunento­r vor der Ausfahrt des Traktors, und das für einen endlos scheinende­n Augenblick.

„Sie meinen Kokain?“Sie siezten sich nach wie vor, beide hatten daran festgehalt­en, ohne es je zu thematisie­ren, weil ihnen immer klar gewesen war, dass ihre Affäre sonst noch schneller aufflöge.

(Fortsetzun­g folgt)

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