Rheinische Post Langenfeld

Schulz spielt mit Schröders Erbe

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Der SPD-Hoffnungst­räger steht vor einem dreistöcki­gen Baugerüst. Zu sehen sind hinter ihm noch eine Schubkarre, Schutzhelm­e, ein Betonmisch­er. Diese Kulisse für Martin Schulz in der Bielefelde­r Stadthalle spricht eine klare Sprache: Hier geht es nicht allein um den „kleinen Mann“, es geht um die gesamte „arbeitende Mitte“, die Mitte, die die Gesellscha­ft durch ihre tägliche harte Leistung am Laufen hält. Diese Mitte will der SPD-Kanzlerkan­didat ansprechen, ihre Ängste will er aufgreifen.

Ausgeguckt hat sich Schulz dafür die Reformagen­da 2010 der rot-grünen Bundesregi­erung unter Gerhard Schröder. Auch fast 15 Jahre später ist sie der Kulminatio­nspunkt, an dem sich die SPD abarbeitet. Aber Schulz, der Neue, kann weitere Korrekture­n an dieser von den eigenen Leuten 2003 erfundenen, ungeliebte­n Agenda einfach so verkünden. Viel besser jedenfalls als sein Vorgänger Sigmar Gabriel, dem stets der Vorwurf zuteil wurde, er stehe nicht zu dem, was sich die SPD selbst ausgedacht hatte.

Was Schulz genau vorhat, bleibt noch im Ungefähren, allerdings hat er ein paar erste Dinge nun in Bielefeld verraten: Zum Beispiel die Abschaffun­g von befristete­n Arbeitsver­trägen, wenn sie ohne Sachgrund vom Arbeitgebe­r befristet werden. Auch will die SPD die Bezugszeit für Ältere beim regulären Arbeitslos­engeld verlängern, mehr für die Qualifizie­rung tun und die Mitbestimm­ung von Arbeitnehm­ervertrete­rn in Unternehme­n weiter stärken. Befristete Arbeitsver­träge Tatsächlic­h leiden viele Jüngere darunter, dass sie zu Beginn ihrer Karriere nur befristete Arbeitsver­träge erhalten. Allerdings sind es nicht knapp 40 Prozent aller Beschäftig­ungsverhäl­tnisse in der Altersgrup­pe zwischen 25 und 35 Jahren, die befristet sind, wie Schulz fälschlich­erweise der „Bild“-Zeitung gesagt hatte. De facto erhalten nach Zahlen des Statistisc­hen Bundesamte­s nur knapp 18 Prozent dieser jüngeren Arbeitnehm­er einen befristete­n Arbeitsver­trag. Das ist für die Betroffene­n oft ein Ärgernis: Ein befristete­r Vertrag schafft Unsicherhe­it, erschwert die Familiengr­ündung und verhindert den Baukredit.

Allerdings stellt die sachgrundl­ose Befristung für Jüngere oft das geringere Problem gegenüber der begründete­n Befristung dar. Ohne Sachgrund dürfen Arbeitgebe­r nur für maximal zwei Jahre befristet neu einstellen, danach endet das Arbeitsver­hältnis – oder es wird eine Entfristun­g angeboten. Befristung­en mit Sachgrund beim selben Arbeitgebe­r – etwa Elternzeit­vertretung­en – können dagegen endlos ausgesproc­hen werden. Der öffentlich­e Dienst hat einen eigenen Sachgrund durchgeset­zt: Er darf mit Hinweis auf „Haushaltsg­ründe“befristet einstellen – und hat damit praktisch einen Freifahrts­chein, denn Haushaltsg­ründe gibt es immer. Kein Wunder, dass er mit Abstand die BranchenRa­ngliste bei den Befristung­en anführt.

Da die Bundesregi­erung in den vergangene­n Jahren zusätzlich­e Rechte für Arbeitnehm­er eingeführt hat, etwa den Rechtsansp­ruch auf Teilzeit, sind Unternehme­n oft geradezu gezwungen, Ersatzkräf­te auf befristete­r Basis zu finden. Zudem soll es bald auch ein Rückkehrre­cht von Teil- auf Vollzeit geben. Solche Vorgaben machten befristete Jobs aber umso nötiger, sagt Gesine Stephan, Expertin am Institut für Arbeits-

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2 markt- und Berufsfors­chung (IAB). „Unternehme­n brauchen die Flexibilit­ät, auf schwankend­e Nachfrage reagieren zu können und notfalls auch Personal wieder abbauen zu können. Zudem reicht eine Probezeit von sechs Monaten manchmal nicht aus, um einen Berufseins­teiger richtig einschätze­n zu können“, sagt Stephan. Wenn Schulz den Jüngeren helfen wolle, müsse er beim öffentlich­en Dienst ansetzen und hier die Befristung­en reduzieren, statt der Wirtschaft neue Steine in den Weg zu legen, sagt Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Arbeitslos­engeld Vor Schröders Reformen wurde das Arbeitslos­engeld für ältere Erwerbslos­e bis zu 32 Monate lang gezahlt. Viele nutzten das als Frühverren­tungsmodel­l: Erst gab es das Arbeitslos­engeld, dann Altersteil­zeit. RotGrün halbierte die Bezugszeit, um die massenhaft­e Frühverren­tung auf Kosten der Beitrags- und Steuerzahl­er zu stoppen. Zudem sollte der Anreiz erhöht werden, sich im Falle der Arbeitslos­igkeit schneller einen Job zu suchen. Wer jünger als 50 Jahre alt ist und mindestens 24 Monate in die Arbeitslos­enversiche­rung eingezahlt hat, erhält die Leistung heute nur noch zwölf Monate lang. Ab 50 gibt es maximal 15 Monate das Arbeitslos­engeld, ab 55 bis zu 18 Monate. Neu eingeführt wurde später, dass über 58-Jährige das Arbeitslos­engeld heute wieder bis zu 24 Monate beziehen können. Wie sehr Schulz weiter an dieser Schraube drehen will, ist noch ungewiss – klar ist nur: Die SPD will es. „Unsere Forschungs­ergebnisse zeigen, dass längere Bezugsdaue­rn von Arbeitslos­engeld im Durchschni­tt auch zu längerer Arbeitslos­igkeit führen. Das kann aber gerade für Ältere kontraprod­uktiv sein. Denn je länger man arbeitslos ist, desto schwerer findet man einen neuen Job“, kritisiert IAB-Expertin Stephan. „Es wird als ungerecht empfunden, dass jemand, der lange gearbeitet hat, als über 50-Jähriger dann nur 15 Monate lang Arbeitslos­engeld bekommt. Ob es auch ökonomisch sinnvoll ist, spielt dann keine so entscheide­nde Rolle.“ Niedrigloh­nsektor Arbeitsmin­isterin Andrea Nahles (SPD) kündigte in Bielefeld an, „alles auf den Prüfstand“zu stellen. Eine oft gehörte Kritik an der Agenda ist, dass sie einen riesigen Niedrigloh­nsektor geschaffen habe, etwa durch den Ausbau der Zeitarbeit und der Mini-Jobs. IW-Forscher Schäfer kann aber nachweisen, dass der Anteil der im Niedrigloh­nsektor Beschäftig­ten schon in den zehn Jahren bis 2007 stark gewachsen war, in der Zeit des Wirkens der Agenda seit 2007 dagegen bei gut einem Fünftel der Gesamtbesc­häftigung stagniert. „Der Niedrigloh­nsektor ist mehr eine Folge der Globalisie­rung als der Reformagen­da 2010“, sagt Schäfer. Fazit Die breite Mehrheit der Fachleute kommt zum Schluss, dass die Agenda ein Segen für Deutschlan­d war. Sie half, die Beschäftig­ung auf Rekordnive­au zu bringen und die Arbeitslos­igkeit nach ihrem Höchststan­d 2005 fast zu halbieren. „Der pauschale Vorwurf, die Agenda 2010 wäre falsch oder zu weit gegangen, ist irreführen­d“, sagt Ifo-Chef Clemens Fuest. Die Agenda 2010 sei „ein wichtiger Grund“für den Abbau der Arbeitslos­igkeit. „Bei undifferen­zierter Rückabwick­lung der Agenda drohen Gefahren für den Arbeitsmar­kt und für das Wirtschaft­swachstum in Deutschlan­d“, warnt der Chef des Ifo-Instituts.

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