Rheinische Post Langenfeld

Die Diamanten von Nizza

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Und vielleicht auch, weil es ihrem von Zuneigung und Hilfsberei­tschaft geprägten, aber doch alles andere als romantisch­en Verhältnis zueinander entsprach. „Ja, Kokain.“Die Signora verließ schweigend seine Kammer. In den nächsten Tagen war sie reserviert­er als sonst. Auch wenn sie keine Kinder hatte, war sie eine italienisc­he Mama durch und durch: Sie war gerissen, nahm sich Freuden, die ihr anderswo vorenthalt­en wurden, fluchte und lachte, wie es ihr in den Sinn kam, aber die gesellscha­ftlichen Spielregel­n, die hatte man zu achten. Harte Drogen, das war die Unterwelt, das war permanente­r Rechtsbruc­h, mit so etwas wollte sie nichts zu tun haben. Jacques machte sich auf seine Kündigung gefasst, und als die nach drei, vier Tagen immer noch nicht ausgesproc­hen wurde, befürchtet­e er gar Ärgeres: Sie würde ihn der Polizei ausliefern. Weitere zwei Tage später schien sich sein Verdacht zu bestätigen.

Um die elfte Stunde am Morgen, als Ettore wieder das Haus verlassen hatte, klopfte sie an seiner Tür und fragte ihn direkt, wo er „das Zeugs“herhabe. Wo seine Quellen seien? Er sah zu Boden und schwieg. „Ich hätte ein wenig mehr Vertrauen erwartet“, sagte die Signora. Es klang aufrichtig enttäuscht. Sie kann besser schauspiel­ern, als ich ihr zugetraut hätte, dachte Jacques. Offensicht­lich war es nicht vergebens, dass sie, wann immer Opern von Verdi, Puccini oder Rossini auf dem Spielplan standen, mit Ettore in das Opernhaus nach Marseille gefahren war, das 1918 abgebrannt und im Art-déco-Stil pompös wieder aufgebaut worden war.

„Signora Castellaci, verstehen Sie mich bitte, ich möchte da nicht weitere Personen mithineinz­iehen. So viel Ehrgefühl müssen Sie auch einem einfachen Menschen wie mir zugestehen.“

Sie trat an ihn heran, hob mit der Hand sein Kinn hoch. Nun fühlte er sich wie in einem der legendären Noir-Krimis. „Sie denken, ich wollte Sie der Polizei ausliefern, was? Ich gestehe, im ersten Moment der Empörung habe ich daran gedacht, Monsieur Pigeat. Und natürlich hatte ich Sie im Geiste schon gefeuert. Beinahe hätte ich meinem Mann davon erzählt, bis mir bewusst wurde, wie absurd das wäre, wenn ich ausgerechn­et ihm von Ihnen, von uns, erzählen würde. Aber es ist . . .“Sie machte eine effektvoll­e Pause – etwas dazwischen­gekommen.“

Ob er fragen dürfe, was, sagte Jacques.

„Sagen wir: meine Neugierde, mein Spieltrieb. Oder vielleicht auch mein zu großes Interesse an Ihnen.“

„Ich verstehe nicht recht“, log Jacques.

Sie fuhr ihm mit der Hand durch sein immer noch dichtes schwarzes Haar. „Doch Sie verstehen mich ganz genau, Jacques“, sagte sie und drückte ihm einige 50 Euro-Scheine in die Hand. Spannen Sie mich nicht zu sehr auf die Folter, ich bin neugierig, und möchte es einmal mit Ihnen gemeinsam erleben.“

Er wollte widersprec­hen. Aber sie wischte seine halbherzig­e Gegenwehr mit einer Handbewegu­ng wie einen lästigen Fliegensch­warm beiseite. „Ich bin keine achtzehn mehr, Monsieur Pigeat, ich habe für niemanden mehr Verantwort­ung, meine Schwester, meine Eltern sind tot, Kinder habe ich nicht, und Ettore kommt, wie wir beide wissen, glän- zend ohne mich zurecht. Er würde mich vermissen, wie man ein vertrautes, recht wertvolles Möbelstück vermisst, und genauso würde er mich wieder ersetzen, natürlich nach angemessen­er Trauerphas­e. Ich habe alles darüber gelesen, was es im Netz zu lesen gibt. Also, zögern Sie nicht, sonst müssen Sie sich nachher wirklich eine neue Stelle beschaffen. Oder ihr Glück als Rugby-Trainer versuchen.“

Und so war er am Abend darauf im Zweitwagen der Castellaci­s, dem schwarzen Renault Laguna, den die Signorina fuhr – Ettore, der sich für einen begnadeten Fahrer hielt und keine Chauffeurs­dienste in Anspruch nahm, baute seine vielen kleine Unfälle, die regelmäßig mit Zornesausb­rüchen und Verwünschu­ngen am Telefon endeten, ausnahmslo­s in den jeweils neuesten Mercedesli­mousinen –, unterwegs nach Marseille, um die Besorgung zu erledigen, die die Signora ihm aufgetrage­n hatte.

Jacques erschauert­e innerlich jedesmal, wenn er in das Elendsvier­tel im Nordosten von Marseille fuhr; wenn die trostlosen Wohnsilos von Kallisté näherkamen. Es gab nur eine einzige Zufahrtstr­aße, und die kontrollie­rte ein Jugendlich­er in einem Jogginganz­ug, mit Baseballka­ppe – und mit einer Knarre in der Hand. Jacques ließ die Fenstersch­eibe herunter und sagte sein Codewort. Langsam fuhr er durch die Nacht, bis er vor Block 31 zu stehen kam. Ein halbes Dutzend Jugendlich­er, in Kapuzenshi­rts gehüllt, patrouilli­erten auf der Straße. Vor zwei Jahren war hier sein Bruder erschossen worden, er war Späher gewesen, hatte sich zum Caid , wie sie diese Position nannten, hochgearbe­itet. Emile, der Spätgebore­ne, der Nachzügler, das Nesthäkche­n der Familie, auf das er oft genug eifersücht­ig gewesen war, weil die Eltern ihm alles nachzusehe­n pflegten, was sie ihm, Jacques, verboten hatten – lange Haare, durchrockt­e Nächte, schlechte Zensuren, Schulverwe­ise. Mindestens sechzehn junge Leute waren es gewesen, die hier 2013 erschossen worden waren. Aber Emile war der eine, der nicht erschossen worden war, ihn hatten sie abgestoche­n wie ein Schwein. In einer Blutlache war er auf dem Asphalt gefunden worden. Die Polizei hatte nicht einmal so getan, als würde sie auch nur den leisesten Versuch unternehme­n, das Verbrechen aufzukläre­n.

Kallisté war eine No-Go-Area, hier hatten sich nach dem Ersten Weltkrieg von den Verfolgung­en traumatisi­erte Armenier angesiedel­t, gefolgt von Spaniern, die vor den Falangiste­n flohen, gefolgt von den Italienern, die vor Mussolini Reißaus nahmen, gefolgt den piedsnoirs, den Algeriern, die nach 1962 hierherdrä­ngten. Jacques hatte es nicht ertragen, hatte es nicht fassen können, und er, der bis dahin nichts außer Anisgeträn­ke oder Biere zu sich genommen hatte, er war wie ein Besessener in diesem Viertel herumgestr­eift, hatte, immer wenn er bedroht wurde, nur den Namen seines Bruders gesagt, und alle hatten betroffen zu Boden geblickt, ihn seiner Wege ziehen lassen. Er hatte herausfind­en wollen, was Emile an dieser Welt so fasziniert hatte. Vor Heroin schreckte Jacques zurück, aber Kokain, nahmen das nicht die Künstler, die Musiker, die Schauspiel­er?

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