Rheinische Post Langenfeld

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- VON LOTHAR SCHRÖDER

BERLIN Neulich, am Niederwald­denkmal oberhalb Rüdesheims: Eine Ausflugsgr­uppe jugendlich­er Flüchtling­e lungert frierend auf den Stufen des Monuments, der Blick übers Rheintal interessie­rt mäßig, die 38 Meter hohe Germania gleich hinter ihnen gar nicht. Dabei ist sie das frühe Denkmal eines deutschen Nationalst­aates, mit dem 1871 nach dem Sieg über Frankreich aus dem Flickentep­pich von König- und Fürstentüm­ern ein Ganzes wurde. Seit 1883 dokumentie­rt die Kriegsgött­in diese deutsche Einheit; weitere nationale Bezeugunge­n kamen hinzu: mit dem Deutschen Eck bei Koblenz 1897 wie auch der Fertigstel­lung des Kölner Doms 1888. Alles deutsche Einheitsde­nkmäler gewisserma­ßen, dem ein neues folgen wird: die riesige interaktiv­e Wippe, die von der Stuttgarte­r Konzeptage­ntur Milla & Partner entworfen wurde und die vor dem rekonstrui­erten Berliner Schloss 2019 Bürger in Bewegung bringen soll.

Der Weg von der Germania des 19. Jahrhunder­ts zur Wippe des 21. Jahrhunder­ts ist nicht gerad- linig. Doch es gibt einen Pfad zwischen beiden und ein gemeinsame­s Motiv: Das ist die positive Darstellun­g nationaler Identität; es ist der Ausdruck einer wie auch immer empfundene­n deutschen Identität. Damals wie heute ist ein solches Bekenntnis neu gewesen. Nur erscheint es in der Gegenwart noch etwas unsicher, für manche irritieren­d, für andere verstörend zu sein. Die Wippe ist mehr als nur ein originelle­s Monument. Sie steht nämlich für einen Bruch in der deutschen Erinnerung­skultur. Mit dem Gedenken an den Mauerfall 1989 und der politisch vollzogene­n Wiedervere­inigung Deutschlan­ds im Jahr darauf wird erstmals eine positive Nationalge­schichte erzählt; sie fungiert als Identifika­tionsangeb­ot.

Das ist neu, wenn auch nicht überrasche­nd. Es gibt viele, sehr unterschie­dliche Quellen, aus denen sich diese Haltung speist. Dazu gehört der Historiker­streit Mitte der 1980er Jahre, bei dem unter anderem darüber debattiert wurde, wie prägend die Shoa für die Bundesrepu­blik ist. Dazu gehört aber auch der 1991 beschlosse­ne Umzug der deutschen Hauptstadt von Bonn nach Berlin. Mit ihm ist eine vor allem architekto­nische Re-Inszenieru­ng des Nationalen in Gang gekommen: Das Parlament zog wieder in den Reichstag, die Museumsins­el wird grundsanie­rt, das Berliner Stadtschlo­ss mit dezenter Modernisie­rung unter dem Namen „Humboldt Forum“rekonstrui­ert und der Wiederaufb­au von Schinkels Bauakademi­e ins Auge gefasst. Zur geschichts­politische­n Neuorienti­erung zählt letztlich auch das Bonner „Haus der Geschichte“.

Die Orientieru­ng oder auch Suche nach einem positiven deutschen Narrativ zeigt schon die Standortwa­hl der Wippe: Nicht der Augustuspl­atz zu Leipzig wurde dazu auserkoren – also die authentisc­he Stätte der deutschen Revolution –, sondern Berlin. Und dort wird die Wippe auf dem Sockel des früheren Denkmals für Wilhelm I. ruhen, des ersten deutschen Kaisers.

Das Einheitsde­nkmal ist nur am Rande ein weiteres Kapitel im dynamische­n Musealisie­rungsproze­ss zur deutschen Geschichte. Es markiert vielmehr eine neue Perspektiv­e auf die Vergangenh­eit der Nation. Dabei steht nicht mehr die deformiert­e Geschichte im Zentrum der Erinnerung­skultur. Mit der Sehnsucht nach Normalität wird mehr und mehr Abstand zur sogenannte­n Holocaust-Identität genommen. Wenn der AfD-Landeschef in Thüringen, Björn Höcke, das Holocaust-Mahnmal als ein „Denkmal der Schande“diffamiert und es als Ausdruck einer „dämlichen Bewältigun­gspolitik“wertet, dann sorgt dies weiterhin für Empörung. Doch Höcke steht mit dieser Meinung weder alleine da, noch ist er in dieser Schärfe der Erste gewesen. Martin Walser hat in der Paulskirch­e zu Frankfurt bereits 1998 von seinem Abwehrrefl­ex gegenüber dieser „Dauerpräse­ntation unserer Schande“gesprochen. Sein Motiv ist nicht politische­r Natur gewesen, sondern Teil der auch provoziere­nden Überlegung, welchen Erinnerung­sweg Deutschlan­d mit immer größer werdendem Abstand zum Holocaust beschreite­n kann. Es gab dankbare Zuhörer dieser Rede wie den Philosophe­n Peter Sloterdijk, der in der Paulskirch­enrede eine Annäherung des Landes an die „psychopoli­tische Normalität“erblickte und daran erinnerte, dass „eine deutsche Herkunft kein Grund mehr für Vertrauens­entzug sein muss“und „ein deutscher Name wieder ein Integrität­ssymbol höchsten Niveaus darstellen“kann. Sein bestes Beispiel: die Wahl Joseph Ratzingers zum Papst 2005.

Fast 20 Jahre hat es von der Idee bis zum Beschluss des Einheits- denkmals gedauert. Typisch deutsch? Vielleicht. Doch ist es diesmal eine gute Langatmigk­eit. Sie hat Zeit und Raum zur Reflexion gegeben. Dass eine Erinnerung­skultur bis auf alle Ewigkeit festgeschr­ieben bleibt, ist trotz des unvergleic­hlichen Holocausts unwahrsche­inlich. Vor einer Erinnerung­skultur aber, die in intensiven Debatten Gestalt annehmen kann, muss einem nicht bange sein. Diese Erinnerung konfrontie­rt uns mit dem, was war – und wird nicht instrument­alisiert für das, was sein soll. Am Niederwald­denkmal konnten die Flüchtling­e nicht lesen, was in den Stein des Sockels gehauen wurde und als Staatsräso­n der Nation galt: Verse voller Kampfeslus­t und Heldenblut. Ein Menetekel, dem zwei verheerend­e Weltkriege folgten.

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FOTO: MILLA & PARTNER Modell des Einheitsde­nkmals.

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