Rheinische Post Langenfeld

Der Löwe kehrt heim

- VON RENÉE WIEDER FOTO: DPA

Der sechsfach oscarnomin­ierte Film „Lion“erzählt die Geschichte eines Waisen, der als erwachsene­r Mann seine Eltern in Indien sucht.

Als der Kleine in den Zug steigt, kann man kaum hinsehen. Mitten in der Nacht ist der fünfjährig­e Saroo auf dem verlassene­n Bahnhof seines Dorfs nahe der indischen Stadt Khandwa aufgewacht. Kurz zum Schlafen auf eine Bank gelegt vom großen Bruder, der noch die Waggons nach Münzen und Essensrest­en absucht. Saroo stolpert in ein leeres Abteil und nickt wieder ein. Als er zu sich kommt, rattert der Zug durchs Land. Zwei Tage lang ist Saroo darin gefangen. Dann spuckt der Zug ihn 1600 Kilometer von Zu-

Man verliebt sich

regelrecht in diesen Film, in die Menschen darin

hause entfernt in der Millionens­tadt Kalkutta auf einen wimmelnden Bahnsteig aus. An einem Ort, wo niemand seinen Dialekt versteht.

Da ist man der Magie dieser Geschichte längst ausgeliefe­rt. Sie ist wahr: Im Jahr 2012 ging das moderne Wunder des Saroo Brierley durch die Weltpresse. Aus Brierleys Autobiogra­phie macht der australisc­he, bisher auf Werbefilme spezialisi­erte Regisseur Garth Davis nun ein Epos, das nach einer Menge Preis- und Presserumm­el auch für sechs Oscars nominiert ist.

Mitreißend beschreibt „Lion“, wie Saroo seiner Familie 1986 verlorengi­ng und zwei Monate allein in den Slums von Kalkutta überlebte, bevor er nach Australien gebracht und dort von einem Ehepaar (Nicole Kidman und David Wenham) adoptiert wurde. 20 Jahre später begann Saroo mit der praktisch aussichtsl­osen Suche nach seinem Heimatdorf. Er fand es tatsächlic­h – mit seinem ausgeprägt­en fotografis­chen Gedächtnis und dem damals brandneuen Google Earth.

Dramaturgi­sch, ästhetisch und inhaltlich ist das Drama sauber in zwei Hälften geteilt. Selbst die Filmmusik ließ Davis für beide Teile separat von den Komponiste­n Dustin O’Halloran und Volker Bertelmann alias Hauschka komponiere­n. Im ersten Kapitel geht Saroo (herzzerrei­ßend: Sunny Pawar) einen Lei- densweg, dessen Drama und grandiose Breitbildo­ptik Danny Boyles „Slumdog Millionär“zuweilen aussehen lassen wie einen Campingaus­flug.

Nach Wochen auf Müllhalden und unter Brücken, mehrmals an Kinderhänd­lern und Pädophilen­ringen nur haarscharf vorbei, landet Saroo bei der Polizei. Als ein Beamter nach dem Namen seiner Mutter fragt, sagt Saroo „Mama“. Man bringt ihn in ein überfüllte­s Waisenhaus, später in ein Flugzeug, das ihn übers Meer trägt. Dann steht er im Wohnzimmer zweier hellhaarig­er, lächelnder Fremder und betastet stumm den Fernseher.

Da ist man selbst immer noch geblendet von dem grellbunte­n, elenden Kalkutta, das dieser Winzling irgendwie überlebt hat. Im optischen Kontrast dazu bebildert der Film Saroos zweites Leben: als den sicheren Ort in gedeckten Farben, den das Kind so dringend brauchte. Aber auch als Kokon, aus dem der Herangewac­hsene eines Tages ausbrechen muss, will er sich selbst finden. Dev Patel verkörpert Saroo im zweiten Kapitel, und vom schmalen „Slumdog Millionär“-Bengel bleibt keine Spur mehr in diesem bärtigen, charismati­schen Kerl. Patel ist für einen Oscar nominiert, weil er den coolen australisc­hen Typen und den verlorenen indischen Jungen gleichzeit­ig in sein Gesicht holen kann. Weil er einen Ausdruck findet für das Gefühl, im eigenen Leben nicht zu Hause zu sein.

Nach außen wirkt Saroo eingemeind­et. Er startet eine Ausbildung zum Hotelmanag­er, anders als sein labiler, auch aus Indien adoptierte­r Bruder macht er den Eltern nur Freude. Mit seiner Kommiliton­in Lucy (Rooney Mara) ist es Liebe auf den ersten Blick. Dann steht Saroo eines Abends bei Freunden vor einem indischen Buffet und bricht zusammen. Bilder schwemmen mit Macht in sein Bewusstsei­n, das Gesicht seiner Mutter, der alte Wasser- tank am Bahnhof, nachts hört er den Bruder seinen Namen schreien. Dem Kollaps folgen Depression­en. Saroo trennt sich von Lucy, meldet sich nicht mehr bei den besorgten Eltern und verschanzt sich in seiner Wohnung.

Monatelang kritzelt er Berechnung­en und Notizen auf IndienLand­karten, die Zimmerwand ist voll davon. „Lion“handelt von Heimatlosi­gkeit, von einem zwischen zwei Kontinente­n, Kulturen und Müttern gefangenen Mann, der glaubt, sich entscheide­n zu müssen. Muss er nicht, wie Saroos Adoptivmut­ter Sue eines schönen Tages deutlich macht. Kidman hat nur eine Handvoll Szenen mit wenig Text, keine davon vergisst man wieder. Der eine längere Monolog, den sie in einer innigen, sehr behutsamen Szene mit Patel hält, ist allein schon ihre Oscarnomin­ierung als beste Nebendarst­ellerin wert.

Man verliebt sich in diesen Film, in die Menschen darin. Man will unbedingt weitergehe­n mit Saroo, wenn er am Ende im Dorfeingan­g steht, voll Angst vor dem, was er finden oder vielleicht nicht mehr finden wird. Auch hat sich selten ein Filmtitel so anrührend vom Schluss her erklärt wie dieser. Im Abspann ist zu lesen, dass Saroo nicht nur den Namen des Dorfs, sondern auch seinen eigenen all die Jahre falsch aussprach. Seine indische Mutter nannte ihn bei der Geburt nicht Saroo, sondern Sheru nach dem Wort Sher.

Auf Hindi bedeutet das „Löwe“. Lion – Der lange Weg nach Hause, Australien, Großbritan­nien, USA, 2016 – Regie: Garth Davis, mit Dev Patel, Rooney Mara, Nicole Kidman, David Wenham, 120 Min.

Bewertung:

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Dev Patel als Saroo auf dem Weg nach Hause.

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