Die Diamanten von Nizza
Bei Elena und Sam hatte sich ein angenehmer Tagesablauf eingespielt. An zwei oder drei Vormittagen in der Woche pflegten sie einen Spaziergang zu ihrem Haus zu machen, um die Fortschritte zu überprüfen, die seit ihrem vorherigen Besuch auf der Baustelle erzielt worden waren. Sie hatten rasch entdeckt, dass Claude, der chef de chantier, der seit vielen Jahren mit Coco zusammenarbeitete, ein ebenso liebenswürdiger wie verlässlicher Bauleiter war. Er war ein drahtiger kleiner Mann mit einem von der Sonne zerknitterten Gesicht, der sich in der Hierarchie der Handwerker hochgearbeitet und auf jeder Stufe etwas dazugelernt hatte; gleich ob Maurer, Installateur oder Elektriker – er hatte alle damit verbundenen Tätigkeiten gemeistert, und mehr. Wenn man keine Eile hatte, wäre er imstande, im Alleingang ein ganzes Haus zu bauen, wie Coco sagte.
Es war Claude, der sie über das Für und Wider polierter Betonböden und die Tugenden des tadelakt aufklärte, eines wasserfesten, antiken marokkanischen Kalkputzes für die Duschen. Dieser Bauleiter entpuppte sich als Autorität auf allen nur erdenklichen Gebieten, von den Schreiner- bis zu den Kunstschmiedearbeiten; er verriet ihnen die Geheimnisse, wie man neues Mauerwerk auf alt trimmte, bis es ein Aussehen erhielt, das man auf das achtzehnte Jahrhundert zurückführen würde; er empfahl ihnen die wirksamsten Methoden, die Dachziegel vor der zerstörerischen Kraft des Mistral zu schützen. Durch den Dunstschleier des beißenden Zigarettenrauchs, der seiner scheinbar immerwährenden Gauloise entströmte, gab er Elena und Sam sein gesamtes Wissen weiter, während sie zum hundertsten Mal die Baupläne für das Haus durchgingen, die Coco gezeichnet hatte.
Im Anschluss an diese architektonische Weiterbildungsmaßnahme pflegten Elena und Sam zum Mittagessen ins Chez Marcel am Alten Hafen gehen, bevor sie ins Le Pharo zurückkehrten. Dort schwammen sie eine Runde oder hielten Siesta, bevor sie Reboul auf den neuesten Stand der Entwicklung brachten. Auf diese Weise vergingen die Tage wie im Fluge. Elena hatte fast vergessen, wie ein Versicherungsbüro von innen aussieht, Sam erweiterte seine Französischkenntnisse, und beide genossen es, die kleinen Städte und Dörfer entlang der Küste zu erkunden.
Da es keine dringenden Aufgaben zu erledigen galt – natürlich abgesehen von den Hausbesuchen –, stellte Sam fest, dass ihn die Serie der sogenannten perfekten Verbrechen mehr und mehr zu fesseln begann. Es war ja nicht nur der Beutezug im Haus des Nudelfabrikanten Castellaci, der Knox Insurance eine Stange Geld zu kosten drohte. Auch die übrigen Diebstähle waren das Werk von Profis, dessen war sich Sam sicher. Dennoch stellte sich die Frage, wie es den Tätern gelungen war, nie die geringsten Spuren zu hinterlassen? Er glaubte nicht recht an die Spur, auf die Elena gestoßen war. Er war erpicht darauf, mehr herauszufinden, und dafür benötigte er Hilfe: Für den Anfang würde es sich lohnen, die Polizeiberichte, die nach jedem ungelösten Fall ad acta gelegt wurden, noch einmal zu durchforsten und zu vergleichen. Vielleicht konnte er Reboul bitten, seinen Freund Hervé zu überreden, sie wieder auszugraben.
Doch bloße Neugierde reichte nicht aus, um sich Zugang zu den offiziellen Polizeiakten zu verschaffen. Es musste ein weiterer, schwerer wiegender Grund her, und der fiel ihm ein, als er wieder mal mit Elena am Pool auf Rebouls Anwesen lag. Es war an der Zeit, dachte er, sich wieder eine berufliche Betätigung zu suchen, und er wusste auch schon genau, wo er sie finden würde. Er beugte sich zu Elena hinüber und gab ihr einen Kuss auf den nackten Bauch, um sie von der neuesten Ausgabe des Salut!- Magazins abzulenken, das Philippe ihr mitgegeben hatte.
Sie blickte ihn über den Rand ihrer Sonnenbrille an und lächelte. „Sollte das ein Wink mit dem Zaunpfahl sein?“
„Nicht genau. Eher eine Geschäftsidee.“Und er schilderte ihr, was ihm durch den Kopf gegangen war.
Elena klang skeptisch, geradezu ungläubig, als sie daraufhin sagte: „Ich wiederhole noch einmal, um sicherzugehen, dass ich dich richtig verstanden habe. Du möchtest, dass Frank Knox dich als Schadensbeauftragten für den gesamten europäischen Raum anheuert?“
„Zeitweilig und unbezahlt. Alles, was ich von ihm will, ist ein Schreiben auf einem Knox-Firmenpapier, das mich beauftragt, im Fall Castellaci in alle Richtungen zu ermitteln. Wegen der Visitenkarten muss er sich nicht den Kopf zerbrechen, die kann ich hier besorgen. Damit und mit dem Schreiben hätte ich etwas Offizielles in der Hand, das ich Hervé und seinen Kumpels bei der Polizei unter die Nase halten könnte.“
„Willst du mir Konkurrenz machen?“Elenas Stimme klang gereizt. „Bist du mit dem Tempo meiner Recherchen im Falle Castellaci ebenso unzufrieden wie es Madame Duplessis ist?“
„Keinesfalls. Betrachte meine Arbeit mehr als eine Art Flankenschutz. Du konzentrierst dich auf die Castellaci-Fährte. Ich werde mich weitgehend auf die anderen Fälle konzentrieren.“
Elena lächelte. „Das klingt ja fast wie Teamarbeit.“„Genau so ist es auch gemeint.“Sie ließ ihre Zeitschrift fallen, legte ihre Hand auf Sams Nacken und begann, seinen Kopf Richtung Bauch zu führen. „Hm, wo waren wir stehengeblieben?“
Als Sam sein Vorhaben am Abend Reboul erklärte, reagierte er belustigt und noch skeptischer als Elena. „Es stimmt natürlich, dass wir Franzosen ein Faible für offiziell aussehende Schriftstücke haben. Aber was wollen Sie mit all dem erreichen, mein lieber Sam?“
„Das weiß ich selbst nicht so genau. Doch wie Sie wissen, sind Profi-Straftaten seit Jahren mein Hobby und ich finde diese Raubüberfälle faszinierend. Drei an der Zahl, und alle perfekt ausgeführt. Wurden Sie von ein und derselben Person begangen? Wie hat der Kerl das geschafft? Was hat er mit den Juwelen gemacht?“
„Glauben Sie nicht, dass sich die Polizei die gleichen Fragen gestellt hat?“
„Sicher hat sie das. Aber sie scheint keine Antwort gefunden zu haben. Natürlich wäre es möglich, dass diese Raubüberfälle nicht ergiebig genug waren, um interessant zu sein.“
„Was meinen Sie damit?“