Buchungen in die Türkei brechen um 50 Prozent ein
Die Verhaftungen in der Türkei schaden dem Tourismus. Zugleich besuchen türkische Minister Deutschland, um Stimmung für Erdogan zu machen.
ANKARA/BERLIN Die Schläge des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gegen die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz wirken sich zunehmend auf die Tourismusbranche des Landes auf. Vor allem deutsche Urlauber meiden die Türkei. So sei die Zahl der Buchungen in den drei Monaten vom November des vergangenen Jahres bis Ende Januar 2017 um gut die Hälfte gegenüber dem Zeitraum des Vorjahres eingebrochen, hieß es aus Branchenkreisen. Der Deutsche Reiseverband (DRV) wird sich heute im Vorfeld der Fachmesse Internationale Tourismus-Börse (ITB) auch zum Türkeigeschäft äußern.
Die Buchungen aus Deutschland sind schon seit einiger Zeit stark rückläufig. Reisten im Jahr 2015 noch 5,6 Millionen Deutsche in die Türkei, waren es im vergangenen Jahr nur noch 2,9 Millionen. Das Geschäftsvolumen ging damit nach Branchenangaben im vergangenen Jahr um 60 Prozent zurück. Und der Einbruch bei den jüngsten Buchungszahlen lässt für den Jahresverlauf einen weiteren deutlichen Rückgang erwarten. „Das ist ein desaströser Verlauf des Tourismusgeschäfts“, sagte DRV-Ehrenpräsident Klaus Laepple, der sich noch immer stark für den Tourismus in der Türkei engagiert.
Nach Auskunft Laepples sind vom Rückgang vor allem die vielen Familienunternehmen an der Mittelmeer-Küste betroffen: „Die Hoteliers und Busunternehmen können ihr Personal nicht mehr halten.“In der Region um Antalya brach das Geschäft um 30 Prozent ein. Allerdings erwartet hier Ernst Primosch, Tourismus-Experte der Agentur Hill und Knowlton, eine leichte Erholung. „Trotzdem wird die Region 2017 noch nicht das Niveau erleben, das sie 2015 hatte“, räumte Primosch ein. Die Region wirbt daher inzwischen mehr um Touristen. „In der Vergangenheit war das nicht notwendig.“
Andere Branchenkenner rechnen mit der Zunahme von Arbeitslosig- keit in den Feriengebieten. So würden Istanbul und Antalya nicht mehr von Kreuzfahrtschiffen angelaufen. Ferienclubs hätten enorme Probleme, ihre Anlagen zu füllen. Tourismusexperte Laepple erwartet sogar, dass noch viele Frühbucher ihre Urlaubsreisen stornieren könnten, wenn die unsichere Lage in der Türkei weiter anhält. Die Furcht der Urlauber vor Terror und instabilen Verhältnissen kommt anderen Reisezielen zugute. „Griechenland ist extrem stark 2017 und erlebt eine wahre Renaissance. Spanien mit den Balearen und den Kanaren bleibt ein Klassiker für Europäer“, sagte der TUI-Deutschland-Chef Sebastian Ebel unserer Redaktion.
Unterdessen besuchen immer mehr türkische Minister Deutschland, um bei den hier lebenden Türken für das umstrittene Präsidialsystem Erdogans zu werben. Das türkische Generalkonsulat in Karlsruhe bestätigte einen Bericht der „Badischen Neuesten Nachrichten“, wonach der türkische Justizminister Bekir Bozdag heute Abend in Gaggenau im Schwarzwald vor Migranten sprechen wird. Das baden-württembergische Staatsministerium wollte sich dazu auf Nachfrage nicht äußern. Auch der türkische Wirtschaftsminister Nihat Zeybekçi soll nach Angaben der Erdogan-Partei AKP am Sonntag in Köln vor Landsleuten reden, das Vorhaben bestätigte auch das türkische Konsulat in Essen. Der Berliner Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, solche Auftritte seien durch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland gedeckt.
Insbesondere angesichts der Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel in der Türkei stießen diese Auftritte weiter auf scharfe Kritik. „Zurzeit hat Erdogan in Deutschland nichts verloren“, sagte Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht unserer Redaktion. „Die Kumpanei der Bundesregierung mit dem türkischen Autokraten muss endlich aufhören.“Die EU solle die laufenden Verhandlungen über eine Erweiterung der Zollunion mit der Türkei auf Eis legen, sagte Grünen-Politikerin Ekin Deligöz. Auch David McAllister (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, kritisierte die „negative Entwicklung in der Türkei“, angesichts derer eine Fortsetzung der EU-Beitrittsgespräche mit Ankara fragwürdig sei.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte die Freilassung Yücels und die Achtung der Pressefreiheit. „Unabhängiger Journalismus muss existieren können, Journalisten müssen ihre Arbeit machen können“, sagte Merkel gestern. Yücel war am Montagabend in Untersuchungshaft genommen worden. Dem Korrespondenten der „Welt“wird vorgeworfen, Propaganda für die verbotene Kurdenpartei PKK sowie die Gülen-Bewegung gemacht zu haben, die Erdogan für den Putschversuch im Sommer 2016 verantwortlich macht. Yücel wurde gestern in das Gefängnis Silivri 80 Kilometer westlich von Istanbul verlegt, wo zahlreiche Regimegegner interniert sind. Kurz vor seiner Verlegung konnte Yücel einen kurzen Brief verfassen, in dem er allen dankte, die sich für seine Freilassung einsetzen: „Glaubt mir: Es tut gut, verdammt gut.“Leitartikel