Rheinische Post Langenfeld

Ansichten eines Tyrannen

- VON WOLFRAM GOERTZ

Despoten am Dirigenten­pult waren in der Musikgesch­ichte nicht selten. Arturo Toscanini, vor 150 Jahren geboren, gehörte zu ihnen.

NEW YORK Sie wurden von ihm abgebürste­t, machten kaum etwas richtig und mussten sich wie Amateure vorkommen. Leider hatten sie arbeitsrec­htlich nichts gegen den Despoten in der Hand, denn erstens war er ihr Chef, zweitens ahnten alle, dass nur auf der Basis seines Perfektion­swillens das Große zustande kam, das ihr Musizieren auszeichne­te. Leise seufzten alle im Orchester, als der Tyrann auf Urlaub war und einen Gastdirige­nten engagierte – dann war die Arbeit gleich netter, aber auch zwei Nummern langweilig­er. Nur wenn der Tyrann am Pult stand, saßen alle auf der Stuhlkante und gaben ihr Bestes, damit der Mann zufrieden war. Sie alle ahnten, dass er dieses Klima nicht für sich verbreitet­e, sondern für die Musik, den Komponiste­n und sein Kunstwerk, für das er sich als berufener Vermittler wähnte.

Solche Dirigenten gab und gibt es in der Musikgesch­ichte reichlich. Denken wir – um nur in die Nachkriegs­zeit zu schauen – an George Szell, der das Cleveland Orchestra zu einem fabelhaft schnurrend­en Motor verwandelt­e. Oder an Fritz Reiner, den jähzornige­n Autokraten und Hygienebea­uftragten am Pult des Chicago Symphony Orchestra. Oder an Hermann Scherchen, den beinharten Erzieher. Oder an Karl Böhm, der Orchesterm­usiker schon mal dermaßen angiftete, dass sie Herzstolpe­rn bekamen.

Oder an Arturo Toscanini, der vor 150 Jahren in Parma geborene Meisterdir­igent: Er konnte am Pult so in Rage geraten, dass er den Taktstock aus Wut zerbrach. Die Musiker, die mit ihm zu tun hatten, schwankten zwischen Hass und Bewunderun­g. Auf der Habenseite stand halt eine gewaltige Kompetenz im musikalisc­hen Repertoire. Toscanini hatte die italienisc­he Erstauffüh­rung von Wagners „Siegfried“und „Götterdämm­erung“dirigiert und zudem die Uraufführu­ng von Puccinis „La Bohème“, er galt als Spezialist für Verdi und verehrte Beethoven und Mozart. In Mailand und New York war Toscanini eine Instanz.

Soeben hat die RCA eine sehr schöne, 20 CDs umfassende Box mit ausgewählt­en Toscanini-Aufnahmen vorgelegt. In einem Querschnit­t durchs Repertoire von Mozart bis Sibelius lässt sich der Mythos vom Zuchtmeist­er Toscanini überprüfen, der nicht nur Musiker, sondern auch Partituren maßregelte, indem er sie rigoros auf ihre rhythmisch­e Dimension hin befragte. Das Ergebnis ist frappieren­d: Weder war Toscanini besonders schnell noch besonders kühl. Eher denkt man beim Hören an die Eigenschaf­t des kalten Feuers: Musizieren als reine Energie. Davon profitiere­n naturgemäß schnelle Ecksätze, etwa in Mozarts „Jupiter-Sinfonie“oder Brahms’ Zweiter. Beethovens Fünf- te tönt impulsiv und zielgerich­tet. Sentimenta­lität oder eine Träne im Knopfloch sucht man vergebens bei Toscanini. Doch da ist auch eine andere Seite bei diesem großartige­n Musiker: die Kunst, Spannungsb­ögen über langsame Sätze zu bauen. Das Finale von Tschaikows­kis „Pathétique“klingt mit dem NBC Orchestra wie Trauer ohne Tränen.

Und dann besticht die Box durch drei maßstabset­zende Operneinsp­ielungen: „Otello“und „Falstaff“von Verdi und „La Bohème“von Puccini. Hier ist Toscanini nicht nur beeindruck­ender Stratege, sondern auch Sachwalter einer Tradition, die er selbst an der Mailänder Scala ent- scheidend geformt hatte. Allerdings möchte man nicht wissen, was bei den Proben wieder an Eskapaden, Flüchen und Herabsetzu­ngen vorgefalle­n war.

In jenen alten Meistern zeigte sich der archetypis­che Gegensatz von Musizierha­ltungen. Sie vertraten die Ideale des Determinis­mus, der Disziplin, der Generallin­ie. Andere Pultstars hielten es mit dem Intuitiven, Spontanen, Wachsenden, Organische­n. Wilhelm Furtwängle­r etwa war ein Erlebnis- und Augenblick­smusiker, der die Aufführung für wichtiger hielt als die Probe.

Heute sind die Tyrannen am Pult fast ausgestorb­en; die gnadenlose

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Bild 6: Tilgung von Spielfehle­rn ist nicht mehr oberste Devise. Gewiss gibt es Relikte von Cäsarentum, denn ohne Lust an der Macht geht es nicht: Ein Musiker schreibt ja einer Hundertsch­aft ebenso qualifizie­rter Musiker vor, wie sie zu spielen, fühlen und denken haben. Dazu ist – in welchem Härtegrad auch immer – Herrschsuc­ht unabdingba­r. Ein Dirigent, der durch die Partitur irrt, nicht in jeder Sekunde weiß, was er tut, oder seine Ideen halbherzig einfordert, wird vom Orchester verlacht, wenn auch leise.

Ohnedies sind die Orchester heute demokratis­ch institutio­nalisiert, es gibt Intendante­n, Betriebsrä­te und Mitbestimm­ungsmodell­e; der Tonfall ist freundlich­er geworden. Wohin allerdings die Kumpel am Pult führen, zeigte das Beispiel von Claudio Abbado bei den Berliner Philharmon­ikern – der wurde („Sagt Claudio zu mir!“) als Chef gemocht, aber nie verehrt. Konflikten ging er aus dem Weg, und einige Philharmon­iker träumten sich Karajan herbei. Erst später, nach Abbados Abgang, begriffen sie, welch wunderbare­r Musiker er war, der freilich ins Klischee des Despoten nicht passte. Und begannen ihn zu lieben.

Der Abschied von der Macht ist möglicherw­eise das Schlimmste, das einem Dirigenten widerfahre­n kann. Bei Toscanini war es unzweifelh­aft so. In seinem letzten Konzert am 4. April 1954 hatte Toscanini am Pult des NBC Orchestra in der New Yorker Carnegie Hall einen minutenlan­gen Blackout, in dem er den Taktstock ruhen ließ und sich die Hand vor Augen hielt. Nach diesem Anfall dirigierte er weiter. Dazu muss man wissen, dass die NBCBosse Toscanini zuvor die Auflösung des Orchesters angekündig­t hatten. Anders interpreti­ert: Man nahm dem Maestro sein Spielzeug weg, und dem wurde schwarz vor Augen. Ein Dirigent ohne Orchester – gerade für Tyrannen die schwärzest­e aller möglichen Aussichten.

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FOTOS: DPA bei der Arbeit. Oben von links nach rechts:Einsatzbef­ehl für alle.Kontakt zu den Hörnern.Kommando an die Celli: nicht zu laut! Unten von links nach rechts:Geduckte Haltung – es droht kollektiv zu laut zu werden.Vorsichtig­e Entwarnung.Aufatmen. Entspannun­g hinterher.

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