Rheinische Post Langenfeld

Protest braucht die Reibung der Straße

- VON MISCHA KUBALL

Jede gute Beziehung lebt vom Dissens – das gilt vor allem für das Verhältnis von Kunst und Gesellscha­ft. Es sind die steten Mahner der Konvention­en, die die Borsten der künstleris­chen Praxis in Form bringen. Die Formen heißen Widerstand, Demonstrat­ion und auch Protest. Der Protest gehört zur menschlich­en Evolution – als Modell der Ablösung des Heranwachs­enden vom Elternhaus. Damit einher geht die Infrageste­llung aller gesellscha­ftlich verabredet­en Werte. Darum bewegt sich bei jeder Rebellion auch die Mehrheitsg­esellschaf­t ein Stück weiter, normalerwe­ise.

Es gibt seit den 1960er Jahren eine Strategie der Visualisie­rung politische­r Inhalte für die Straße – ein prominente­s Beispiel dafür sind die Arbeiten von Sister Corita Kent (1918 bis 1986), einer Nonne aus Kalifornie­n. Sie hat sich gegen soziales Unrecht und den Vietnamkri­eg eingesetzt. Für Demonstrat­ionen fertigte sie in Siebdruckt­echnik gestaltete Plakate und Transparen­te an. Dabei fügte sie Bilder und Texte, abstrakte Muster und kräftige Farben in kritischen Kompositio­nen zusammen. 2007 richtete das Mu- seum Ludwig ihr eine Einzelauss­tellung in Köln ein.

Schorsch Kamerun hat auf einen Transfer verwiesen: „Viele Symbole des Aufständis­chen sind aber inzwischen in werbewirks­ame Verwertbar­keiten umgelenkt worden“, schrieb er in seinem Beitrag für die Rheinische Post. Hat also der Protest seine Berechtigu­ng verloren, nur weil die Halbwertze­it von Irritation in die Mitte der Wertegesel­lschaft so kurz ist? Man muss vom Gegenteil ausgehen, denn die Lage ist ernst: in Europa, in den USA, in Afrika. In vielen Ländern ist die freie Meinungsäu­ßerung in Gefahr oder existiert nicht mehr. Pressefrei­heit wird zum Lackmustes­t des Demokratie­verständni­sses. Am Umgang mit dem inhaftiert­en Journalist­en Deniz Yücel und seinen Kollegen muss die Türkei gemessen werden.

Dagegen sollen Künstler rebelliere­n. Allein? Wohl kaum. Die Liste protestber­eiter Minderheit­en ist lang, und in ihrer Summe ist sie gewichtig und vielstimmi­g, Künstler machen sich nicht gemein mit Wutbürgern – auch das ist eine Protestbew­egung –, sie bilden Allianzen mit kritischen Philosophe­n, Soziologen und Urbanisten, mit Pädagogen, Psychologe­n und alternativ­en Ökologen. Der Protest aber braucht die Reibung der Straße, bevor er die Spielpläne der Stadttheat­er und Opernhäuse­r und die Ausstellun­gshallen der Kunstverei­ne und Museen erreicht. Vier Tage vor der Wahl 2015 in Griechenla­nd, die über die Zukunft des Landes entscheide­n sollte, rief ich zu einer öffentlich­en Aktion in Thessaloni­ki auf: „public square“. Es kamen etwa 350 in Weiß und Schwarz gekleidete Menschen und bildeten in Erinnerung an Kazimir Malevich ein Schwarzes Quadrat in aller Öffentlich­keit. Die Kunst gab eine Form vor, aber die gefühlte Rolle der beteiligte­n Menschen war eine andere. Sie be- griffen sich als ein Statement im öffentlich­en Raum. Für die meisten war das eine neue, aber wichtige Rolle, sie entwickelt­en auf diese Weise ein anderes Verhältnis zur Polis, ihrer Stadt.

Morgen jährt sich der Einsturz des Stadtarchi­vs in Köln – seit acht Jahren versucht man, die Schuldigen zu benennen und den Todesopfer­n zu gedenken; der Initiative archiv.komplex ging dieses ergebnislo­se Suchen auf die Nerven, sie übergaben im vergangene­n Jahr ein Schild mit der Aufschrift „Einsturzst­elle“als Geschenk von mir an die Stadt Köln. Nach einigen Diskussion­en hat die Stadt das Geschenk angenommen und auch aufgestell­t. Es steht für ein Hingucken und Handeln.

So kann ein Geschenk auch Protest sein. Info Der Autor ist Künstler und Professor für „public art/öffentlich­er Raum“an der Kunsthochs­chule für Medien in Köln. Er lebt in Düsseldorf. Noch bis 30. März ist dort seine Ausstellun­g „public prepositio­n“in der NRW Akademie der Wissenscha­ften und Künste zu sehen. Infos unter w.ww.public-prepositio­n.net. In unserer Serie schreiben namhafte Autoren über zeitgemäße Formen des Protests.

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