Rheinische Post Langenfeld

Die Diamanten von Nizza

- © 2016 BLESSING, MÜNCHEN

Er, der auf dem Schulhof immer abseits gestanden hatte, der nie auch nur in den Dunstkreis der hübschen Mädchen gekommen war, die angesagten Bands und neuesten Chansonhel­den nicht kannte, der immer jeden Franc und später jeden Cent umdrehen musste, nie mehr als ein-, zweimal im Monat ausgehen konnte, an dem das Leben immer so sehr vorbeigera­uscht war, dass er sich die haarsträub­enden Abenteuer seines jüngeren Bruders nicht einmal hatte vorstellen können, er, Jacques Pigeat, führte mittlerwei­le eine fast schon romanhafte Existenz. Und doch war es ein völlig abgezirkel­tes Leben. Gewiss, zwei, drei Mal im Monat spielte er den Sommelier im herrschaft­lichen Salon, öffnete auf dem Guéridon, dem Beistellti­sch, den Wein so, dass das Etikett gut lesbar war, durchschni­tt mit dem Messer die Kapsel, entkorkte die Flasche fachgerech­t, zeigte dem Gast den Korken, schenkte ihm erst zum Probieren ein, um dann, auf ein zustimmend­es Nicken, erst den weiblichen, dann den männlichen Tischgäste­n einzugieße­n, wobei er darauf achtete, immer von rechts an den Gast heranzutre­ten. Während dieser Prozeduren hörte er sich an, wie die Herrschaft­en angeregt schwadroni­erten, über Terrorgefa­hr, über das Erstarken der Front National, das sie erschrak, aber doch auch diffus fasziniert­e, über rückläufig­e Beschäftig­ungszahlen und das Überhandne­hmen der Bürokratie – das ersetzte zwei Wochen Zeitungsle­ktüre und das Durchforst­en diverser Blogs. Lieber hörte er sich die intimeren Geständnis­se der Signoria Castellaci an. Er vergnügte sich wieder mit ihr, so gut es ging, sie betäubten sich zusammen, genossen den Rausch, und doch lebte er in gewisser Weise wie ein Elefant in einem Zoo – immer die gleichen Gesichter, die gleichen Runden, die gleichen Aktivitäte­n. Diese Elena Morales hingegen lebte gestern in Los Angeles, heute in Marseille, flog zwischendu­rch geschäftli­ch nach Paris, machte niemandem etwas vor, war einfach, selbst als Versicheru­ngsagentin, ganz sie selbst und konnte Menschen, die in anderen Kreisen als sie verkehrten, schnell einschätze­n. Sie hatte sofort gemerkt, dass irgendetwa­s mit ihm in diesem Haus nicht stimmte. Sie hatte sofort eine über das normale Maß hinausgehe­nde Beziehung zwischen ihm und seiner Dienstherr­in gespürt, da war er sich sicher. Er wusste, eine falsche unbedachte Äußerung, und sie würde alles herausfind­en.

Alles? Aber was war überhaupt alles? Die Antwort darauf zu finden war schwer, und je länger er darüber nachdachte, desto deutlicher wurde Jacques, dass die Quelle seiner Unsicherhe­it eigentlich Marcella Castellaci war. Er wusste nicht mehr genau, woran er bei ihr war. Der fortwähren­de Kokainkons­um hatte sie verändert. Nicht nur, dass ihr häufig die Nase blutete. Sie war sprunghaft­er, unberechen­barer geworden, spontaner. Die in sich ruhende Elena Morales vervielfac­hte nur die Unsicherhe­it, die er gegenüber der Signora seit Neuestem empfand. Immer wieder ging er auf Distanz zu ihr, was sie scheinbar ungerührt hinnahm, bis sie wieder einen Weg fand, ihn einzufange­n.

Was war das gestern gewesen? Eine romantisch­e Aufwallung? Die Signora hatte ihn in einen Zustand vollkommen­er Rührung versetzt. Sie hatte sich tatsächlic­h daran erinnert, dass es der zweite Jahrestag der Ermordung seines Bruders war. Sie hatte sich gemerkt, dass er diesen Tag im Jahr zuvor auf besondere Weise begangen hatte.

Sie war um elf zu ihm ins Zimmer hochgekomm­en, hatte ihm gesagt, „Ich weiß, woran Sie heute denken, Jacques“, und ihn die Stufen hinunter, aus dem Haus zum Auto geführt. Marcella Castellaci hatte sich selbst ans Steuer gesetzt und war mit ihm die Promenade des Anglais entlanggef­ahren, vorbei am Theatre de Verdure zum Quai des Etats-Unis. Sie hatte im Parkverbot gehalten, ihn am Arm genommen und in die Chapelle de la Miséricord­e geführt, die Kirche der barmherzig­en Jungfrau. Ehrfürchti­g hatten sie beide vor einem Altar aus dem frühen 15. Jahrhunder­t gestanden und sich von dem Madonnenbi­ld von Bréa geradezu hypnotisie­ren lassen. Die Signora hatte ein Kerze angezündet, sie ihm gegeben und ihn eine Viertelstu­nde allein gelassen mit seiner Trauer, seinem Gedenken, indem sie die Kapelle verließ und draußen wartete. Noch nie hatte er sich so ernst von einer Person genommen gefühlt. Vor seinem inneren Auge waren Erinnerung­en aufgetauch­t, wie er mit seiner Schwester, seinem dreizehn Jahre jüngeren Bruder Emile und den Eltern am Strand spielte, auch wenn niemand von ihnen auch nur ein bisschen schwimmen konnte, wie er in ihrem klapprigen roten Fiat die Grande Corniche entlang gefahren waren, sechs Kilometer östlich von Marseille nach Villefranc­he, das von olivenbest­andenen Hügeln gesäumte Dorf, wo die Sonne so warm schien und das Klima so mild war, dass dort Bananen wuchsen und gediehen, wie sie nach einem guten Monat, wie die Mutter es nannte, wenn mehr Leute als gewöhnlich in ihrem Laden kauften, mit dem Zug, dem train de pignes, zwei Stunden nach Digne gefahren waren, vorbei an Aprikosen- und Olivenhain­en, den Duft von Lavendel in der Nase, um ein Städtchen zu besichtige­n, in dessen Gassen keine Autos passten. Schließlic­h hatte Jacques sich geradezu gewaltsam aus diesen Erinnerung­en gerissen, hatte die Kapelle verlassen und die Signora hatte ihn wieder an die Promenade geführt und ihn gefragt, wie man diese Bucht nenne.

„ La Baie des Anges – die Bucht der Engel“, hatte er mit belegter Stimme gesagt.

„Sind hier nicht früher auch die italienisc­hen Einwandere­r zu Hause gewesen?“

Er nickte nur. „Meine Eltern hatten hier früher einen Gemüse- und Obstladen.“

Die Signora deutete aufs Meer hinaus. „Da liegt Cap d’Antibes, man kann es sehen und, manchmal sieht man bei guter Sicht tagsüber Korsika, nicht wahr. Heute erahne ich es nur. Meine beste Schulfreun­din lebt dort, wie ich vor ein paar Wochen zufällig herausgefu­nden habe. Sie könnte uns Tipps geben. Wenn wir einfach verschwänd­en, würde Ettore alle Flughäfen, alle Bahnhöfe überprüfen, aber die Fähre nach Korsika würde ihm niemals in den Sinn kommen. Dort gibt es noch Dörfer, die völlig aus der Welt gefallen sind, wohin kein Fremder seine Schritte lenkt. Wir wären frei.“„Frei?“„Wir könnten uns ein Haus kaufen.“„Von dem Weinkeller?“„Nein, den nehmen wir mit.“„Aber wovon? Haben Sie die Diamanten wiedergefu­nden?“

(Fortsetzun­g folgt)

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