ERNESTO CARDENAL „Ich träume vom Reich Gottes auf Erden“
Der 92-jährige Befreiungstheologe aus Nicaragua setzt seine Hoffnung jetzt auf Papst Franziskus.
WUPPERTAL Er versteht sich als Marxist, er ist katholischer Priester und einer der meistgelesenen Lyriker Lateinamerikas: Ernesto Cardenal. Der 92-Jährige ist eine schillernder Figur der Weltgeschichte. So beteiligte er sich in den 1970er Jahren an der sandinistischen Revolution in Nicaragua, war von 1979 bis 1987 Kulturminister und widmete sich der Alphabetisierung in seinem Land. Und er gründete auf der Inselgruppe Solentiname im großen See von Nicaragua eine klösterliche Lebensgemeinschaft, ein Platz des Friedens, der Besinnung und der Gottesliebe. Sein Engagement wurde mitunter zwiespältig gesehen. Als einer der führenden Befreiungstheologen suspendierte ihn Johannes Paul II. vom Priesteramt – wegen seines politischen Engagements. Es heißt, Sie seien auf der Suche nach einem Exil – eventuell Deutschland? CARDENAL Ach wissen Sie, in Nicaragua herrscht eine Diktatur der Familie von Daniel Ortega. Und die Präsidentengattin hasst mich schon aus Zeiten der Revolution. Daher kommen die Gerüchte. Ich habe noch nie daran gedacht, ins Exil zu gehen. Ist die sozialistische Revolution denn endgültig gescheitert? CARDENAL Die Revolution in Nicaragua war damals demokratisch – und dazu gehörten auch Wahlen. Die aber gingen dann verloren, weil ein Kriegszustand herrschte und die Lage extrem schwierig war. Fidel Castro hat uns damals vor dieser Wahl gewarnt. Gleich nach der Niederlage verfiel die Moral bei vielen Führern der Revolution, und sie begannen, sich noch schnell am Staat zu bereichern, bevor sie die Macht abgeben mussten. Sie waren eben immer nur Kinder des Krieges. Ist denn die Idee vom Sozialismus noch in den Köpfen der Menschen? CARDENAL Die Hoffnung ist klein, weil die Menschen enttäuscht sind. Wie überall auf der Welt. Die Jugend misstraut den politischen Führern. War denn Solentiname für Sie so etwas wie eine gelebte Utopie? CARDENAL Solentiname ist ein Mythos. Es war nur eine sehr schlichte Erfahrung von Gemeinschaft und eigentlich nie groß gedacht. Weil aber so viel darüber geredet wurde, erscheint es der Welt, dass es etwas Großes gewesen sein muss. Solentiname war wichtig, aber schlicht. Sind Sie ein Optimist? CARDENAL Ich will darauf so antworten: Der Kapitalismus ist eine Sackgasse, der eine unglaubliche Armut auf der Welt produziert und die Ökologie und damit unsere Lebensgrundlagen zerstört. Wenn wir so weitermachen, kommt es zu einem Selbstmord der Menschen. Wie viel Kraft schöpfen Sie aus Ihrem Glauben? CARDENAL Er spendet mir viel Hoffnung. Und er inspiriert meine Poesie. Wie sehr schmerzt heute noch die Suspendierung vom Priesteramt? CARDENAL Es hat mich noch nie geschmerzt. Der Papst war ein Feind jeder Revolutionen. Erst recht wollte er keine, die von Christen gemacht und von Christen getragen wurde. Dieser Papst hat uns sogar verboten, Regierungsämter zu übernehmen. Aber ich bin ihm nicht gefolgt. Ich folge nur meinem Gewissen. Welche Hoffnung verbinden Sie jetzt mit Papst Franziskus? CARDENAL Er stellt sich auf die Seite der Armen. Die Revolution, die er führt, ist die im Vatikan. Und weil er den Vatikan verändert, wird es zu einer großen Veränderung in der ge- samten katholischen Kirche kommen. Es könnte zu einer Revolution in der ganzen Welt führen – eine Revolution des Evangeliums; eine Revolution von Jesus Christus, die darin besteht, dass die Letzten die Ersten sein werden. Also umgekehrt zu dem, wie es jetzt ist. Haben Sie denn keine Sorge, dass er scheitern könnte? CARDENAL Natürlich hat er es sehr schwer. Es herrscht so viel Korruption im Vatikan. Welchen großen Traum träumen Sie noch? CARDENAL Die Erschaffung des Reiches Gottes auf Erden. Also: Jene Veränderungen auf unserer Welt, die schon Jesus bewirken wollte und weshalb er Mensch geworden ist. Das ist mein Traum und das ist mein Glaube. Und das meint auch die Wiederauferstehung von Toten.