Rheinische Post Langenfeld

Ex-Förderschü­ler klagt auf Schmerzens­geld

- VON CLAUDIA HAUSER

Nenad Mihailovic war elf Jahre lang auf einer Förderschu­le, weil er als geistig behindert galt. Das ist der 20-Jährige aber nicht. Nun will er sich vor dem Kölner Landgerich­t rehabiliti­eren. Es ist die erste Klage dieser Art in Deutschlan­d.

KÖLN Als Nenad Mihailovic seine erste Klassenarb­eit schrieb, war er 17 Jahre alt. „Mein Herz hat geklopft“, sagt er. Der Mathelehre­r des Berufskoll­egs in Köln-Deutz gab ihm eine „Eins minus“. Und Nenad wäre am liebsten mit der Klausur zu seinen ehemaligen Lehrern gelaufen, hätte sie ihnen auf den Tisch geknallt und gesagt: „Ich kann’s.“

Elf Jahre lang war der heute 20Jährige auf Förderschu­len, weil Pädagogen ihn nach Angaben seiner Anwältin als geistig behindert eingestuft hatten – zu Unrecht, wie Nenad nun beweisen will. Er verklagt das Land NRW wegen Amtspflich­tverletzun­g auf Schadeners­atz und Schmerzens­geld in Höhe von 52.000 Euro. Heute startet der Prozess vor dem Kölner Landgerich­t.

Wenige Tage vor dem Prozess sitzt Nenad im Wohnzimmer seiner Mutter im Stadtteil Höhenhaus. Er denkt immer kurz nach, bevor er spricht. Nenad gestikulie­rt viel mit den Händen, um dem, was er sagt, Nachdruck zu verleihen. „Ich mache das nicht wegen des Geldes“, sagt er. „Ich mache das, weil die Schulen meine Vergangenh­eit und meine Zukunft sehr beeinträch­tigt haben – welcher Chef will schon einen ehemaligen Sonderschü­ler?“

Nenad und seine Familie sind Roma. Seine Eltern stammen aus Serbien, sie flüchteten in den 90er Jahren vor dem Krieg. Nenad wurde in Köln geboren, er hat fünf Geschwiste­r. Seine Mutter spricht nur Romanes, der Vater starb vor einigen Jahren. Nenads Schicksal nahm seinen Lauf, als er nach einem Test an einer Grundschul­e am damaligen Wohnort in Bayern als geistig behindert eingestuft wurde. Der Junge verstand damals kaum Deutsch. Er wusste nicht, was der Mann, der da vor ihm herumfucht­elte, von ihm wollte. „Einen Dolmetsche­r gab es bei dem Test nicht, mir wurde ein Intelligen­zquotient von 59 bescheinig­t“, sagt Nenad. Er wurde auf eine Förderschu­le geschickt. Unter den geistig und körperlich benachteil­igten Kindern wurde der Junge immer stiller. „Ich habe nie mitgemacht, weil ich überhaupt nicht wusste, was die Lehrer von mir wollten.“Deutsch lernte er zu Hause vor dem Fernseher.

Als die Familie 2009 nach Köln zurückging, kam Nenad gleich auf die nächste Förderschu­le für geistige Entwicklun­g, in Köln-Poll. Fünf Jahre blieb er dort. Ob tatsächlic­h noch Förderbeda­rf bestand, wurde nie wieder überprüft, wie Nenad sagt. Eigentlich muss eine Schule das jährlich testen. Er wurde auch in dieser Schule zum Einzelgäng­er, stellte seinen Tisch extra in eine Ecke, weg von den anderen, zu denen er nicht gehören wollte. „Ich wollte Mitschüler haben, die wie ich waren“, sagt er. Einmal saß er auf dem Schulhof und weinte. „Ein jüngerer Schüler kam und klopfte mir auf die Schulter, von den Lehrern kam nichts, nie.“Ein Einziger habe ihn ernst genommen, als er ihm ge- sagt habe: „Ich passe hier nicht rein, ich will auf eine richtige Schule.“Der Pädagoge habe ihm dann im Unterricht oft andere Aufgaben gegeben, um ihn ein bisschen zu fördern. Gelernt habe er ansonsten aber nichts in dieser Zeit. „Ich bin irgendwann dann kaum noch zur Schule gegangen, aus Protest.“Nenad las zu Hause Bücher. Das Schwänzen wurde ihm als Desinteres­se ausgelegt. „Es hieß dann: ,Du kriegst hier nichts auf die Reihe, dann bringt eine andere Schule erst recht nichts.’“

Der Kölner Aktivist Kurt Holl war es, der Nenad schließlic­h half. Nenad kannte ihn und hatte sich ihm anvertraut. Der inzwischen verstorben­e Menschenre­chtler, der sich über Jahrzehnte für Roma in Köln eingesetzt hatte, meldete Nenad einfach auf einem Berufskoll­eg an, wo er innerhalb eines Jahres im Juni 2015 einen Hauptschul­abschluss machte – als Klassenbes­ter und mit einem Notendurch­schnitt von 1,6. Als Nenad sich in dieser Zeit für einen Praktikums­platz als Lagerist bewarb, antwortete er dem Chef auf die Frage, was er denn an Qualitäten mitbringe: „Mein Gehirn. Mir müssen Sie nichts dreimal erklären.“

Inzwischen macht Nenad seinen Realschula­bschluss. Im Sommer sind die Abschlussp­rüfungen. „Theoretisc­h wäre ich jetzt schon mit der Ausbildung fertig“, sagt er. Eine Psychologi­n hat seinen IQ für den Prozess erneut getestet: Er liegt bei 94, Nenad liegt damit im guten Bevölkerun­gsdurchsch­nitt. „Den meisten meiner Klassenkam­eraden merkt man an, dass sie in der Schule sind, weil ihre Eltern sie geschickt haben.“Er selbst sei dort, um endlich etwas zu lernen.

Das Schulminis­terium räumt Fehler ein, das kognitive Potenzial des Schülers sei vermutlich nicht richtig erkannt worden. „Für seinen weiteren Lebensweg wünscht man ihm in dem Schreiben viel Erfolg“, sagt Nenads Anwältin Anneliese Quack. „Die haben einem Kind die Kindheit und Jugend versaut, und keiner entschuldi­gt sich.“Die Kölner Förderschu­le behauptet in einem Schreiben an die Juristin, dass sie ihn regelmäßig getestet habe. „Sie behaupten, er habe eine instabile Persönlich­keit – deshalb habe ein Wechsel nicht zur Debatte gestanden.“

Wenn Nenad heute an die Zeit auf den beiden Förderschu­len denkt, sagt er: „Das ist, als hätte ich unschuldig im Gefängnis gesessen.“

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FOTO: HAUSER Nenad Mihailovic verklagt das Land wegen Amtspflich­tverletzun­g auf Schadeners­atz und Schmerzens­geld in Höhe von 52.000 Euro. Ihm geht es aber nicht ums Geld, sondern um Wiedergutm­achung.

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