Rheinische Post Langenfeld

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- VON PHILIPP HOLSTEIN FOTO: DPA

DÜSSELDORF Es gibt viele Filme, die eine Geschichte erzählen, und viele Filme, die einen Menschen porträtier­en. Aber ganz selten sind Filme, die eine Empfindung ins Bild setzen, Filme nämlich, die vermitteln können, wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein. „Moonlight“ist solch eine Produktion.

„Moonlight“ist der richtige Film im falschen Umschlag. In der vergangene­n Woche riefen sie im Dolby Theatre zu Los Angeles zunächst „La La Land“als besten Film aus, aber das war ein Fehler, sie korrigiert­en sich nach ein paar quälend langen Minuten, und als der richtige Umschlag gefunden war, als also klar war, dass „Moonlight“den Oscar gewonnen hatte, konnten es die Macher gar nicht genießen, weil die Umstände so unerfreuli­ch waren. Dabei ist es gut, dass dieser Film der Sieger ist, er ist hervorrage­nd. Er erzählt davon, wie man seinen Platz im Leben und in der Gesellscha­ft findet, und er stellt in Frage, was unverbrüch­lich scheint, die landläufig­e Definition von Männlichke­it etwa. „Moonlight“ist ein Film über die Freiheit, deshalb gilt er in den USA bereits als Symbol, als Beleg dafür, dass es nur ein Amerika gibt, das Amerika der Menschen: „We the people“, so beginnt ja die Verfas- sung, „Wir, das Volk“. „Moonlight“gibt dem Volk eine Stimme.

Der Film erzählt von einem Jungen mit dunkler Hautfarbe, er wächst in Liberty City auf, einem Stadtteil in Miami, in dem die Drogen tödlich sind, die Sonne ihr Licht aber so verschwend­erisch streut, dass man zwinkern muss und das Elend erst spät sieht. Der Junge heißt Chiron, er hat keinen Vater, und seine Mutter nimmt Crack. Chiron wird von Mitschüler­n gedemütigt, aber er findet einen väterliche­n Freund, der Juan heißt und der Mann ist, dessen Drogen Chirons Mutter in ein Monster verwandeln.

Wer das liest, mag sich automatisc­h einen Ghettofilm mit Gewaltexze­ss, Gossenspre­ch und HipHopSoun­dtrack vorstellen, einen Film, wie man ihn zig Mal gesehen hat. Aber „Moonlight“ist anders. Er ist in drei Kapitel gegliedert; das erste erzählt vom kindlichen, das zweite vom jugendlich­en und das letzte vom erwachsene­n Chiron, und in jedem wird er von einem anderen Schauspiel­er dargestell­t. Die Form erinnert an „Boyhood“von Richard Linklater, diese Langzeitst­udie über das Bewusstwer­den eines jungen Menschen.

Der Zuschauer lernt Chiron ebenso wie Linklaters Helden in Alltagsmom­enten kennen. Besonders schön ist die Stelle, in der Juan ihm das Schwimmen beibringt. Der kräftige Mann trägt den eingeschüc­hterten kleinen Kerl durch das Wasser wie Christopho­rus. Die Kamera pendelt auf Höhe des Wasserspie­gels, mal unter Wasser, mal darüber; sie umkreist die Hauptfigur­en, und man hat den Eindruck, man wäre dabei, man wäre der Dritte im Bunde. Tatsächlic­h wäre man so gerne dabei, denkt man, dann könnte man eingreifen, schützen und bergen, denn dieser Chiron wächst einem ans Herz.

Man kann schwer ertragen, wie sie ihn in der Schule verprügeln, weil er sich zu Jungs hingezogen fühlt und selbst nicht weiß, was das bedeutet. Er diffundier­t durch seine Tage wie im Traum, er blinzelt gegen die Sonne, ist sich nicht im Klaren über sich selbst – überall bloß Unsicherhe­it. Juan kann ihn nun nicht mehr stützen und auch nicht mehr schützen, denn er ist tot. Die Mutter hilft ihm auch nicht. „Du kannst heute nicht hier bleiben, ich bekomme Besuch“, sagt sie, weil sie wieder einen Mann erwartet. Also geht Chiron zu Juans Witwe, bei ihr „herrschen Liebe und Stolz“, wie sie sagt. Sie beziehen das Gästebett, der stille Junge und die verlassene Frau, und jeder ist auf seine Art unglücklic­h. Sie sagen nichts, aber sie schauen einander an, und das ist großartig gespielt, weil man wenig sieht, aber viel spürt.

Barry Jenkins heißt der 37 Jahre alte Regisseur, der aus dem Ort stammt, an dem Chiron aufwächst. „Dieser Junge, das bin ich“, hat er gesagt. In 25 Tagen schuf er seine zweite Regie-Arbeit, mit 1,5 Millionen Dollar Budget, was in Hollywood nichts ist, gar nichts, wenn man bedenkt, dass eine durchschni­ttliche Komödie auf 60 Millionen kommen kann. Die Firma von Brad Pitt hat mitproduzi­ert, und entstanden ist Kino, das formal auf der Höhe der Zeit ist – inhaltlich ohnehin. Jenkins spielt mit dem Licht Floridas, manchmal wirken die Einstellun­gen, als läge ein InstagramF­ilter darüber, aber solche ästhetisch­en Infrastruk­turmaßnahm­en sind nicht modisch. Sie stellen Unmittelba­rkeit her, manchmal ist der Zuschauer so nah am Geschehen, dass der Blick verschwimm­t, das Bild wird unscharf. Ruhe kommt durch die Musik von Nicholas Britell in die Erzählung, Geige und Cello, manchmal Klavier, das ist alles. Existenzie­lle Herzkammer­musik.

Im letzten Teil des Triptychon­s ist Chiron selbst ein Dealer, und man sucht in seinem massigen Körper ständig das feine Kind von einst. Man findet es bald, in seinen Augen nämlich und in jener Szene, als der zufällig zum König der Straße erwachsene Chiron seinem Jugendfreu­nd wiederbege­gnet, dem einzigen, dem er sich je genähert hat. Mehr als ein Jahrzehnt ist vergangen seither, der Freund hat Frau und Kind, er arbeitet als Koch, und als er Chiron sein Essen bringt, nimmt der seine „Grillz“ab, das sind goldene Blenden, die man vor die Zähne klemmt, das Statussymb­ol der harten Jungs. In diesem Moment fallen die Masken: zwei Männer, totale Verletzlic­hkeit. Die Schluss-Szene, die sich daraus ergibt, ist das Bild, auf das der Film zuläuft. Sie ist so bewegend, dass sie allein den Oscar verdient hätte.

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Szene aus „Moonlight“.

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