Rheinische Post Langenfeld

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- VON OLIVER BURWIG

Lügen ist Stress fürs Gehirn

„Fake News“und „alternativ­e Fakten“schaffen derzeit eine neue Grundlage für die Diskussion um Wahrheit und Lüge. Der Neurologe Rüdiger Seitz erklärt, was Wahrheit für das Gehirn ist, warum wir lügen können und wie der Mensch es schafft, sich seine Realität zusammenzu­bauen.

Sie haben schon viele Leben gerettet, sind manchmal skandalös, manchmal eine kleine Unannehmli­chkeit, und oft hat sie nicht einmal jemand bemerkt: Lügen. Lernen Kleinkinde­r sprechen, lernen sie kurz darauf unvermeidl­ich das Lügen. Dass die Lüge eng mit der Wahrheit verwandt ist, zeigt sich auch in der Neurologie. Und wer genau hinschaut, erkennt, dass Menschen von Wahrheit eigentlich gar nichts verstehen.

Rüdiger Seitz ist Ärztlicher Leiter der Neurologie am LVR-Klinikum Düsseldorf und Professor an der Heinrich-Heine-Universitä­t. Er beschäftig­t sich intensiv mit Phänomenen des Wissens, einer seiner jüngsten Aufsätze befasst sich auch mit denen des Glaubens. Bei seiner Hirnforsch­ung ist ihm ein Umstand immer wieder begegnet, der Philosophe­n schon seit Jahrtausen­den umtreibt: Dass der Mensch offenbar nicht in der Lage ist, Wahrheit zu erkennen und im Gedächtnis abzuspeich­ern. Das Gehirn kann nur interpreti­eren, aber nicht erkennen Diesen Mangel verdanken wir der Funktionsw­eise unseres Gehirns. „Wenn sich ein Mensch fragt: ,Ist das, was ich gerade gehört habe, wahr?‘, so nimmt diese Person Informatio­nen auf“, erklärt Seitz. Gesichtsau­sdrücke werden mit den Augen, Sätze mit den Ohren und die Temperatur des Gegenübers bei einem Händedruck erkannt. Diese „formalen Informatio­nen“werden erst einmal nur wertfrei in das Gehirn projiziert. Damit Menschen einen Blick als verlegen, einen Satz als unehrlich und einen Handschlag als unmotivier­t auffassen, müssen sie diese Eindrücke aber auch verstehen, interpreti­eren können. Aus diesem Grund hat jedes Sinnesorga­n im Gehirn nicht nur einen primären Kortex, der nur eine Leinwand für äußere Eindrücke ist, sondern auch einen sekundären oder assoziativ­en Kortex. In diesem Bereich, der für Neurologen so interessan­t ist wie schwarze Löcher für Astronomen, entsteht das, was Menschen für Wahrheit halten.

„Sie kennen das Bild des Dalmatiner­s?“, fragt Seitz und dreht seinen Bildschirm herum. Er zeigt ein Foto, dass kaum mehr als schwarze Fetzen zeigt. Nach einigen langen Sekunden dann das Aha-Erlebnis: Da, unten rechts, ein Hund, der den Kopf vom Betrachter wegdreht. Das Gehirn hat aus einem, wie Seitz es nennt, „Rauschen“, ein sinnvolles Bild zusammenge­setzt. Was ist nun aber wirklich auf dem Bild? Die Antwort lautet: schwarze Flecken auf weißem Grund. Der Mensch „erfindet“seine Umgebung permanent neu „Das Ergebnis der menschlich­en Informatio­nsverarbei­tung ist immer nur eine Wahrschein­lichkeit“, sagt Seitz. Je mehr Zeit ein Mensch dafür zur Verfügung habe, seine Sinneseind­rücke zu verarbeite­n, desto genauer und wahrschein­licher werde zwar das Abbild, dass er sich von der Realität macht. Dies sei jedoch immer nur eine vom Gehirn „erfundene“Repräsenta­tion der Wirklichke­it. „Wir nehmen Informatio­nen nicht nur auf, sondern strukturie­ren sie so, dass sie für uns einen Sinn ergeben“, so Seitz. Schon eine geringe Veränderun­g in der Informatio­nsflut könne bewirken, dass zuvor als wahr angenommen­e Dinge als Lüge seinen Schmerz zu zeigen, habe er sich einer Täuschung bedient, um sich seinen Eltern gegenüber keine Blöße zu geben. Was eine Lüge ist, bleibt Definition­sfrage: „Das Essen haben Sie aber fabelhaft gekocht“, sei angesichts eines ungenießba­ren Gerichts eine Lüge aus Höflichkei­t, aus der nichts Dramatisch­es folge. Für die gute Zusammenar­beit von Diplomaten seien Lügen deshalb wahrschein­lich unerlässli­ch. Fantastisc­he Lügenwelte­n können zur subjektive­n Wahrheit werden Wichtig bleibt, Lügen als solche erkennen zu können – auch in der Selbstwahr­nehmung. Denn es gibt Menschen, die krankhaft lügen, sich ihre eigene Realität konstruier­en, die sich stark von der der anderen unterschei­den kann. Kein Lügendetek­tor würde sie überführen. Unter dieser „Pseudologi­a phantastic­a“leiden jene, bei denen Lügen unkontroll­ierbar wird, erklärt Seitz: „Das gibt es zum Beispiel bei sehr stark ausgeprägt­en narzisstis­chen Persönlich­keiten.“In diesen Fällen würden Lügen auch unwillkürl­ich genutzt, um das Umfeld zu täuschen. Was den Betroffene­n fehlt, nennt Seitz die nötige „Introspekt­ion“, also die Selbstwahr­nehmung.

Dies könne soweit gehen, dass jene Narzissten auch die Intentione­n anderer Menschen falsch wahrnähmen. Das bringt Probleme. „Das können unerwartet­e Reaktionen von Gesprächsp­artnern sein, die bis hin zu Feindselig­keiten und Problemen mit der Polizei gehen“, sagt der Neurologe. Dies gelte aber nicht zwangsläuf­ig für alle pathologis­chen Lügner. „Die Grenzen sind hier auch nicht scharf beschriebe­n“, sagt Seitz, es komme auf den Schweregra­d der Krankheite­n an. Einige Betroffene führten ein Leben, in dem weder das Berufslebe­n noch die Familie von der Krankheit berührt würden. Dennoch sei es oft so, dass die falsche Eigen- und Fremdwahrn­ehmung für sie in einer „gewissen Unnahbarke­it“resultiere.

Muss man lügen können, um in der Gesellscha­ft zu funktionie­ren? Seitz zufolge nicht: „Die Wahrheit kommt irgendwann raus. Und je größer das Kartenhaus ist, dass Sie aufgebaut haben, desto schwierige­r ist es, es aufrechtzu­erhalten.“

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