Rheinische Post Langenfeld

Ein Fausthieb und die Folgen

- RP-FOTO: ANDREAS BRETZ

Zwei Tage vor Weihnachte­n wurde Christian Ziemke (Name geändert) auf dem Weg zur Arbeit niedergesc­hlagen. Erst jetzt findet er langsam wieder in sein Leben zurück.

mal geht es gut. Trotzdem. Er ist noch lange nicht der Alte.

Da sind die Kopfschmer­zen – aber auch die bohrenden Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Was hat diesen Idioten geritten? War das Schicksal? Oder einfach Pech? Was mache ich, wenn er mir irgendwann noch mal gegenüber steht?

Denn der Schlüssel ist weg. Ist er beim Hinfallen aus der Tasche gerutscht? Ist er auf dem Weg ins Büro verloren gegangen? Die Familie wechselt die Schlösser aus. Man weiß es ja nicht.

Die Polizei macht ihnen wenig Hoffnung, dass der Täter gefasst werden kann. Die Zeugin mit der Tochter hat gleich nach der Tat dort angerufen, aber weil noch keine Anzeige vorlag, konnte sie keiner zu- ordnen. Am 4. Januar erscheint ein Fahndungsa­ufruf in der Zeitung: „Ein Angriff auf einen 43-jährigen Düsseldorf­er gibt der Polizei Rätsel auf“, heißt es da. „Der Schläger soll etwa 20 bis 25 Jahre alt sein. Wer hat ihn gesehen oder kann weitere Angaben machen?“Daraufhin meldet sich die Zeugin doch noch mal.

Anfang Januar geht er jeden Tag zur Reha. Gleichgewi­chts-Übungen. Zirkeltrai­ning. Reaktionst­ests. Er hat Kopfschmer­zen. Eigentlich immer. Seine Frau erschrickt über ihn, wenn er freudlos ins Leere starrt. Er kann nicht gut darüber reden.

Außerdem kann er nichts riechen. Die Ärzte wissen nicht, wieso. Ein Nervenscha­den? Eine Folge der Schwellung? Er – der Gourmet. Der Familienko­ch. Er nimmt acht Kilo in drei Wochen ab. Jetzt muss seine Frau kochen.

Er versucht, optimistis­ch zu sein. Vor zwei Wochen war alles noch viel schlimmer. Aber je länger der Überfall zurücklieg­t, desto langsamer werden seine Fortschrit­te. Ende Januar fühlt sich alles nur noch an wie ein endloses Warten darauf, dass endlich alles wieder normal wird.

Anfang Februar geht es ihm auf einmal wieder schlechter. Nackenschm­erzen, Schwindel. Er macht sich Sorgen: Ist das jetzt eine neue Blutung? Die Ärzte wollen sich nicht festlegen, ob und wie lange es dauern wird, bis er wieder ganz hergestell­t ist. Er hat bisher geglaubt, dass er irgendwann wieder so sein wird wie vorher: der schnelle, schlaue Klassenclo­wn. Der Leistungsf­ähige. Der Belastbare. Der Ausdauernd­e. Der Familiener­nährer. Aber was, wenn das nicht passiert? Wenn er für immer der Beschädigt­e bleiben wird?

Er fährt auf Rat einer Therapeuti­n zur Haltestell­e. Er staunt, dass niemand sein Blut von der Scheibe gewischt hat. Es ekelt ihn, aber es wirft ihn nicht aus der Bahn.

Mitte Februar trifft er die Zeugin. Er hofft, dass ihr Gesicht vielleicht eine Erinnerung auslöst – doch im Café erkennt er sie nicht. Trotzdem: Endlich bekommt er ein paar Details. Er ist erstaunt, wie sehr die Geschehnis­se auch sie beeinfluss­t haben: Sie hält seitdem immer die Augen offen, ob sie den Mann irgendwo sieht.

Anfang März kommt er noch mal für eine Woche nach Bochum, in die Uni-Klinik. Er macht sich große Hoffnungen und kommt enttäuscht zurück. Keine neuen Erkenntnis­se. Es ist ihm peinlich, wie sehr es ihn erleichter­t, als eine Psychologi­n laut ausspricht: Eine vollständi­ge Rehabilita­tion ist möglich. Das will er hören.

Zwei Stunden am Tag – damit steigt er Mitte März wieder in den Beruf ein. Es tut gut zu sehen, dass er seinen Job noch kann. Anstrengen­der als die Arbeit sind die endlosen Verhandlun­gen mit der Krankenkas­se. Seit Ende Januar hat er kein Gehalt mehr bekommen. Wegen Formalität­en wartet er noch immer auf die Auszahlung des Verletzten­geldes.

Was gibt es Positives? Die Familie ist näher zusammenge­rückt, die Kinder suchen mehr Nähe seit dem Überfall. Aber es ist auch vieles verloren gegangen. Sein Urvertraue­n in seine Gesundheit. Sein Glaube, dass schon nichts passieren wird. Geblieben ist Wut über die Sinnlosigk­eit dieser Tat, die das komplette Gefüge seines Lebens, das seiner Familie erschütter­t hat.

Er bemüht sich, normale Gedanken zu haben. Aber dann steht er an der Haltestell­e und wartet auf den Bus. Ein SUV mit getönten Scheiben hält auf der anderen Straßensei­te. Und für einen Moment fragt er sich: Was tue ich jetzt, wenn der Mann aussteigt und zu Ende bringen will, was er angefangen hat? Er hat keine Angst. Keine Panik. Der Gedanke ist einfach so da.

Ein irrer Gedanke. Das weiß er selbst. Aber das ist jetzt seine Normalität.

Da sind die Kopfschmer­zen– aber auch die bohrenden Fragen, auf die es keine Antwort gibt.

War das Schicksal? Er staunt, dass niemand

sein Blut von der Scheibe gewischt hat. Es ekelt ihn, aber es wirft ihn nicht aus der Bahn.

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