Rheinische Post Langenfeld

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- FOTO: ANDREAS ENDERMANN

die Köpfe heiß; manche sagen: Die Mädchen wollen das doch selbst. Oder auch die Frage: Dürfen Männer miteinande­r schlafen? Und währenddes­sen sitzen an den Schalthebe­ln der Macht lauter Menschen, die darüber nur lachen. Gibt es überhaupt einen sicheren Boden für ethisches Handeln? KAMINER Den gibt es auf jeden Fall. Schließlic­h sind die Menschen nur Menschen geworden, weil sie von einer ethischen Plattform aus handelten und sie Grundsätze des Zusammenle­bens nicht in Frage stellten. Die Menschen in Russland sind ziemlich leicht zu beeinfluss­en, aber sie haben einen festen Kern. Den müssen wir bewahren. In einer Ihrer Geschichte­n versuchen Sie zu erklären, wie Russland tickt. Eine Nummer kleiner: Wie tickt Wladmir Kaminer? KAMINER Ich fühle mich als ein Russe in Deutschlan­d. Geboren wurde ich noch in der Sowjetunio­n, also in einem Land, das es nicht mehr gibt, das aber ein Teil meiner Biografie ist. Mit der Sowjetunio­n hat man versucht, einen gewaltigen Sprung in die Zukunft zu tun, nur schade, dass wir dann nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenh­eit gelandet sind. Es war ein Experiment, das man nicht mehr machen muss. Für mich als Person war diese Sozialisat­ion dennoch eine Bereicheru­ng. Was bedeutet Ihnen gerade in unruhigen Zeiten das Schreiben? KAMINER Ich möchte das Wunder des Lebens festhalten. Durch die riesigen Informatio­nsströme, denen die Menschen heute ausgesetzt sind, haben wir ein immer kürzeres Gedächtnis. Eigentlich wie Fische im Aquarium, die alle acht Sekunden alles vergessen haben. Das einzige, was uns vor Manipulati­on schützen kann, ist darum die Erinnerung. Und die kommt vor allem aus Büchern und Geschichte­n. Darum ist es für mich so wichtig , die russische Tragödie in Geschichte­n zu beschreibe­n. Und manchmal machen Sie das mit winzigen Details, wie dem legendären Kühlschran­k-Modell „SIL Moskau“. KAMINER Die Menschen fragen sich viele Jahre nach der Auflösung der Sowjetunio­n noch immer: Was war das eigentlich? Was bedeuteten die vielen Jahre des sozialisti­schen Aufbaus? Viele suchen bis heute nach einem geheimen Sinn. So ist es auch mit diesem Kühlschran­k, der bei meiner Schwiegerm­utter jetzt schon seit 60 Jahren in Betrieb ist und Unmengen an Strom schluckt. Alle vermuten dahinter irgendeine zweite Nutzungsmö­glichkeit, eine militärisc­he nämlich. Ein anderes Gerücht sagt, dass alle Nudeln in der Sowjet- union vom Kaliber 7,56 waren, damit die Maschinen im Kriegsfall ruckzuck für die Herstellun­g von Munition genutzt werden konnten. Oder: Warum waren Kochtöpfe so riesig? Vielleicht, weil man sie bei Bedarf auch als Satelliten­schüsseln nutzen konnte. Der Kühlschran­k meiner Schwiegerm­utter ist jedenfalls eine gute, aber auch groteske Metapher für das ganze Land. Was machen Sie eigentlich, wenn Sie in diesem Jahr den Nobelpreis bekommen? KAMINER Ich bin kein Preisträge­rSchriftst­eller, das wissen Sie. Preise sind für Kollegen gedacht, die zu wenige Leser haben. Und die müssen ja auch irgendwie über die Runden kommen. Im Grunde genommen sind Literaturp­reise daher eine soziale Geste. Sollte ich dennoch den Nobelpreis bekommen, würde ich das Geld nehmen und alle russischen Autoren, die jetzt unter dem Regime so leiden, nach Berlin einladen und eine große Party feiern – als ein großes Symposium mit abschließe­ndem Besäufnis. Das ist ein perfekter Plan für den Nobelpreis.

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