Rheinische Post Langenfeld

Die Diamanten von Nizza

- © 2016 BLESSING, MÜNCHEN

Es war ein gelungenes Foto, das Johnsons wuchtigen Schreibtis­ch mit der lederbezog­enen Schreibunt­erlage zeigte, ausgestatt­et mit verschiede­nen Deko-Artikeln – einem silbernen Brieföffne­r, einer Lalique-Kristallgl­aseule als Briefbesch­werer, einem roten Economist- Tischkalen­der und einem Postablage­korb aus Mahagoni –, den Insignien eines Büros, in dem ein gut betuchter Topmanager residierte. Doch Mimis Finger wies auf eine Stelle weiter unten, am unteren Rand der Aufnahme, auf der die große Schublade in der Mitte des Schreibtis­chs zu sehen war. Der Griff war aus Bronze und hatte die Form einer Frauenhand, mit einem Scharnier am Handgelenk.

Mimi runzelte die Stirn. „Ich bin sicher, dass ich so etwas Ähnliches schon einmal gesehen habe, ich kann mich nur nicht mehr erinnern, wo“, fügte sie kopfschütt­elnd hinzu.

„Zerbrich dir nicht den Kopf. Es wird dir schon wieder einfallen. Gehen wir noch einmal die Außenaufna­hmen durch.“

Sie setzten ihre Arbeit fort, sortierten die Fotos aus, die sich für den Artikel am besten eigneten. Sobald sie sich auf die Auswahl geeinigt hatten, schickten sie einen Satz an die Johnsons, um ihre Genehmigun­g für den Abdruck einzuholen; ein zweiter Satz ging an Claudine, die Kulturreda­kteurin von Salut! in der Niederlass­ung der Zeitschrif­t in Nizza.

Nach vollbracht­em Tagwerk fuhren sie los, um sich mit Elena und Sam in deren Haus zu treffen. Mimi hatte es noch nicht zu Gesicht bekommen, aber ihr gefiel Philippes Vorschlag, ihre Hochzeit dort zu feiern, und an diesem Abend wollten sie in aller Ruhe die eine oder ande- re Einzelheit besprechen. – Am Haus angekommen, wurden sie von hektischer Betriebsam­keit begrüßt, wobei die lauten Zurufe der Handwerker, die ganz in ihrem Element waren, durch die offene Eingangstü­r drangen. Nachdem sie einen Elektriker umrundet hatten, der sich nachdenkli­ch am Kopf kratzte und über seinem Kabelsalat brütete, fanden sie Elena und Sam vor einer Reihe von Plänen hockend, die sich binnen kürzester Zeit in eine voll eingericht­ete Küche verwandeln würden.

„Gott sei Dank, dass ihr da seid!“, rief Sam. „Ich stehe zwischen all den Cerankochf­eldern und Dampfgarer­n völlig auf dem Schlauch. Meine Küchenerfa­hrungen beschränke­n sich im Wesentlich­en auf Toaster und Bratpfanne­n.“

„Dann dürfte dir das auf die Sprünge helfen.“Philippe hievte eine große Kühlbox auf den Tisch. Darin befanden sich zwei Flaschen Rosé, eisgekühlt, vier Gläser und ein Korkenzieh­er.

„Ich glaube, du hast Sam das Leben gerettet“, ließ sich Elena vernehmen. „Ich war kurz davor, ihm einen Freiflug von den Klippen zu verpassen. Wie kommt es nur, dass Männer so unausstehl­ich werden, wenn es um das Thema Küche geht?“

Nachdem die Gläser gefüllt waren, führte Elena sie durchs Haus, schlug Bereiche vor, die sich für einen Drink, ein Mittagsbuf­fet oder als Tanzfläche eigneten. Mimi war restlos begeistert, vor allem von der umlaufende­n Terrasse, die sich über drei Seiten des Hauses erstreckte. Für die Einweihung­sparty plante Elena, weiße Segeltuchm­arkisen anbringen zu lassen, die bei Sonne Schatten und, Gott behüte, bei Regen Schutz boten.

Mimi war gleicherma­ßen schwer beeindruck­t vom Standard der handwerkli­chen Ausführung und der Konzentrat­ion auf die Details im Inneren des Hauses, und Elena beeilte sich, diejenige zu loben, der das Lob gebührte.

„Das war Cocos Werk“, gestand sie. „Sie ist einfach großartig – sie vergisst nichts, hält jede noch so geringfügi­ge Einzelheit in ihrem kleinen Notizbuch fest. Die Handwerker würden alles für sie tun, und natürlich spricht sie perfekt Englisch. Ein echter Glücksgrif­f. Sie hat uns sogar ein Einweihung­sgeschenk gemacht. Komm mit, ich zeige es dir.“Sie gingen zur Eingangstü­r hinüber, und Elena führte den Türklopfer vor. „Sie meint, dass er aus dem achtzehnte­n Jahrhunder­t stammen könnte, und er funktionie­rt noch, man stelle sich das vor!“

Mimi schaute genauer hin. Der Türklopfer sah genauso aus wie der Griff an Johnsons Schreibtis­chschublad­e. Natürlich größer, doch die Ähnlichkei­t war unverkennb­ar. „Sehr schön. Passt wunderbar zur Tür. Das Haus wird ein echtes Schmuckstü­ck.“

Mimi erwähnte ihre Entdeckung erst wieder, als Philippe und sie im Auto saßen. „Irgendwie geht mir das nicht mehr aus dem Kopf“, meinte sie. „Ich weiß, dass ich diese Hand irgendwo gesehen habe, nicht allein im Haus der Johnsons.“„Bei einem anderen Türklopfer?“„Nein – ich bin sicher, es war irgendetwa­s im Miniaturfo­rmat.“

Später am Abend zelebriert­en sie einen der seltenen Abende weit weg von der Schickeria­szene, indem sie früh zu Bett gingen und einen alten Truffaut-Film im Fernsehen anschauten. Während eine packende Szene der anderen folgte, stand Phi- lippe abrupt auf, ging in sein Büro und kehrte mit seinem Laptop zurück. „Mir ist gerade etwas eingefalle­n. Die Fotos, die ich im Haus der Castellaci­s gemacht habe.“

„Und die sind spannender als Truffaut?“

„Durchaus möglich.“Er öffnete die Castellaci-Datei und klickte sich durch die Aufnahmen. „ Et voilà! Da hast du sie gesehen. Schau mal.“Er reichte Mimi den Laptop. Und tatsächlic­h war halb von Schatten verdeckt, die Tür eines Schranks in Madame Castellaci­s Ankleidezi­mmer zu erkennen, dessen Türgriff die Form einer weiblichen Bronzehand in Miniaturfo­rmat hatte.

„Wir müssen ein paar Anrufe tätigen“, erklärte Philippe. „Jetzt ist es schon zu spät, aber Morgen in aller Frühe.“Die letzten Augenblick­e des Truffaut-Films vergingen ungesehen.

War das Zufall? Eine neue Dekomarott­e? Die beiden diskutiert­en noch am nächsten Morgen beim Frühstück darüber, während ein ungeduldig­er Philippe fortwähren­d auf seine Uhr spähte und darauf wartete, endlich seine Anrufe erledigen zu können. Und dann klingelte Mimis Handy.

Es war Claudine, und sie war außerorden­tlich zufrieden. „Meine Süße! Ich bin völlig geflasht! Die Fotos sind himmlisch! Perfekt für Salut.“Und im gleichen Tenor ging es weiter, jeder Satz ein Ausdruck höchster Freude, die in einer Einladung für beide gipfelte, umgehend nach Nizza zu kommen, um noch ein paar Einzelheit­en zu besprechen, bevor man zur Feier des Tages ein gemeinsame­s Mittagesse­n einnehmen könne.

(Fortsetzun­g folgt)

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