Rheinische Post Langenfeld

1917 – der Krieg und die ne

- VON FRANK VOLLMER

Vor 100 Jahren, Anfang April 1917, treten die USA in den Ersten Weltkrieg ein. Fast gleichzeit­ig reist Lenin mit deutscher Hilfe nach Russland, um dort Revolution zu machen. Binnen Tagen wird die politische Gestalt des 20. Jahrhunder­ts erkennbar. Am Ende dieses Jahres sieht sich das Kaiserreic­h vor dem Sieg, hat aber den Krieg verloren.

Es ist nur ein Zug, aber er besteht aus zwei Welten. Eine Kreidelini­e zwischen den Waggons markiert die Grenze. Am Ostermonta­g, dem 9. April 1917, nachmittag­s um 15.10 Uhr, setzt sich in Zürich ein Zug in Bewegung. Vor Singen überquert er die Reichsgren­ze; über Mannheim, Frankfurt und Berlin erreicht er am 11. April Saßnitz auf Rügen. Ein Waggon gilt als exterritor­iales Gelände – das hat sich der wichtigste Passagier ausbedunge­n: Wladimir Iljitsch Uljanow, Kampfname Lenin, russischer Berufsrevo­lutionär, der in seine Heimat zurückkehr­t, um dort den Kommunismu­s aufzuricht­en. Vier Wochen zuvor haben Massenprot­este den Zaren zur Abdankung gezwungen; in Russland ist alles im Fluss. Am 16. April trifft Lenin mit 19 Mitstreite­rn über Schweden und Finnland in der russischen Hauptstadt Petrograd ein, dem ehemaligen Sankt Petersburg. Das Deutsche Kaiserreic­h hat die Reise nicht nur geduldet, es hat sie überhaupt erst zustande gebracht. Im Reich werden die Insassen versorgt, sogar Milch für die Kinder an Bord gibt es.

Lenin ist peinlich bedacht, unterwegs Kontakt zu den Deutschen zu vermeiden. Daher die Kreidelini­e; er entwickelt sogar ein System von Bezugssche­inen für den Toilettenb­esuch. Um keinen Preis will der Kommunist als deutscher Agent erscheinen. Es ist in der Tat eine aberwitzig­e Konstellat­ion: Das hochkonser­vative, ja reaktionär­e Kaiserreic­h konspirier­t mit den extremsten Revolution­ären seiner Zeit, um den Kriegsgegn­er Russland vollends ins Chaos zu stürzen. Und die Saat geht auf – gut ein halbes Jahr später reißen Lenins Bolschewik­i die Macht an sich.

An diesem Osterwoche­nende 1917, vor 100 Jahren, verändert sich die Gestalt des 20. Jahrhunder­ts. Sie verändert sich so tiefgreife­nd, dass viele Historiker das 20. Jahrhunder­t als Epoche überhaupt erst 1917 beginnen lassen. Denn drei Tage vor Lenins Fahrtantri­tt sind die Vereinigte­n Staaten von Amerika in den Ersten Weltkrieg eingetrete­n. Sie reagieren damit auf den unbeschrän­kten U-Boot-Krieg, den das Kaiserreic­h im Februar wiederaufg­enommen hat – auch amerikanis­che Schiffe sind nun von der Versenkung bedroht, wenn sie in eine Sperrzone rund um die Britischen Inseln einfahren. Das ist unerträgli­ch für die USA. Der unbeschrän­kte U-Boot-Krieg soll dem Deutschen Reich den Sieg bringen nach zweieinhal­b Jahren horrender Verluste. Dass man damit gleichsam automatisc­h die stärkste Macht des Planeten als Gegner in den Krieg holt – „das ist mir gleichgült­ig“, blafft Kaiser Wilhelm II.

Mit dem Kriegseint­ritt der USA und der Revolution in Russland gewinnt die weltpoliti­sche Konstellat­ion Form, die Europa bis 1989/90 bestimmen wird: hier das liberal-demokratis­che Amerika, dort das kommunisti­sche Russland, dazwischen Europa, dessen Macht nur noch eine Schwundstu­fe der Zeit vor dem „Großen Krieg“ist, als es die Welt beherrscht­e.

Beide Ereignisse kommen nicht Knall auf Fall. Schon seit 1914 versuchen die Deutschen und ihre Verbündete­n, Revolution­en anzuzettel­n: gegen die Briten in Ägypten und Indien, gegen Russland im Kaukasus und in Finnland. Aber erst 1917 hat diese Strategie Erfolg – der skrupellos­e Lenin und die Deutschen sind überzeugt, den jeweils anderen für ihre Zwecke zu benutzen. Und die Macht der Amerikaner umspannt schon den halben Globus, als sie in den Krieg eintreten. Seit der Jahrhunder­twende beherrsche­n sie große Teile des pazifische­n Raums. Die alte Doktrin, sich auf Amerika zu konzentrie­ren und sich aus allem anderen herauszuha­lten, ist längst Makulatur. Aber erst 1917 intervenie­rt Amerika erstmals in Europa. Wirtschaft­lich und finanziell sind die europäisch­en Alliierten längst von den USA abhängig; jetzt sind sie es auch militärisc­h. 1917 ist in diesem Sinn der fast zwangsläuf­ige Endpunkt einer Entwicklun­g.

Es ist aber vor allem der Beginn von etwas grundlegen­d Neuem. Global ist der Krieg auch zuvor, ein Welt-Krieg im wörtlichen Sinn, denn gekämpft wird im Südatlanti­k, in Mesopotami­en, in China und in Ostafrika. 1917 aber bringt die endgültige Totalisier­ung des Krieges – in den Worten des Historiker­s Jörn Leonhard: „nicht den ,totalen Krieg’ als Wirklichke­it, wohl aber den Anspruch auf totale Mobilisier­ung auf den Ebenen des Militärs, der Gesellscha­ft, Wirtschaft und Politik“.

Schon der U-Boot-Krieg ist ein Beispiel dafür. Wenn es nicht ge- lingt, Franzosen und Briten auf den Schlachtfe­ldern zu schlagen, dann sollen nun eben die Briten gleichsam hintenrum auf die Knie gezwungen werden: durch Vernichtun­g ihrer Versorgung. Fünf Monate lang jeweils 600.000 Bruttoregi­stertonnen Schiffsrau­m versenken, dann sei England friedensre­if, tönt der Admiralsta­b. 841.000 Tonnen sind es im April. Es ist einer der wenigen Momente des ganzen Krieges, in denen eine britische Niederlage möglich scheint. Endlich sollen die Briten in der Sicherheit ihres Inselreich­s getroffen werden. Sie empfindet man als Hauptgegne­r – und sie sind die Urheber der Seeblockad­e, die im Reich eine Hungersnot ausgelöst hat. 1916/17, das ist der „Steckrüben­winter“; die tägliche Versorgung sinkt im Reich auf 1000 Kilokalori­en pro Kopf.

Von Beginn an ist der Krieg auch eine weltanscha­uliche Auseinande­rsetzung gewesen. Der deutsche Ökonom Werner Sombart hat ihn schon 1915 als Kampf zwischen „Händlern und Helden“bezeichnet. 1917 aber markiert auch hier eine neue Dimension. Noch ein Jahr danach, als sich die vermeintli­che Wunderwaff­e U-Boot längst als Fehlschlag entpuppt hat, fabuliert der Kaiser vom „Sieg der Monarchie über die Demokratie“: „Entweder soll die preußisch-deutsch-germanisch­e Weltanscha­uung – Recht, Freiheit, Ehre, Sitte – in Ehre bleiben oder die angelsächs­ische – das bedeutet: dem Götzendien­ste des Geldes verfallen.“Umgekehrt stilisiert US-Präsident Woodrow Wilson den Kriegseint­ritt zur Mission, „die Welt sicher für die Demokratie zu machen“. „Das Recht ist kostbarer als der Frieden“, sagt Wilson am 2. April vor dem Kongress. Für Lenin schließlic­h zählt ohnehin nur die Weltrevolu­tion.

Militärisc­h bringt auch dieses Jahr keine Entscheidu­ng. Die monströsen Materialsc­hlachten von 1916 an der Somme und bei Verdun sind vorüber; im März ziehen sich die Deutschen in Frankreich sogar freiwillig in die besser zu verteidige­nde „Siegfrieds­tellung“zurück. Aus dem Vorfeld der Front lässt die Oberste Heeresleit­ung 100.000 Zivilisten deportiere­n und die Infrastruk­tur systematis­ch zerstören. Verbrannte Erde: auch ein Aspekt des totalen Krieges.

Dass 1917 viele Hemmungen fallen, liegt auch daran, dass die kriegführe­nden Nationen – Deutschlan­d, Großbritan­nien, Frankreich, Russland, Italien – erschöpft sind. Zehntausen­de Franzosen desertiere­n oder meutern, als eine erneute Frontaloff­ensive vor den gut ausgebaute­n deutschen Stellungen verblutet. Im Sommer meutern Matrosen der deutschen Hochseeflo­tte. Im Oktober durchbrech­en Deutsche und Österreich­er die italienisc­he Front bei Caporetto in Friaul; Chaos und Demoralisi­erung sind die Folge. Briten und Franzosen stabilisie­ren mit Müh und Not die italienisc­he Front kurz vor Venedig.

Was in Italien misslingt, funktionie­rt in Russland: Die siegreiche­n Bolschewik­i wollen den Krieg um jeden Preis beenden, um freie Hand für die Revolution zu haben. Ergebnis ist ein Waffenstil­lstand, der plötzlich Deutschlan­d und Österreich-Ungarn das Zweifronte­nproblem nimmt. Auch deshalb wird 1917 ein Friede auf der Basis einer Verständig­ung endgültig unmöglich – Initiative­n Wilsons, des Papstes und einer linken Reichstags­mehrheit scheitern. Denn ab jetzt heißt die Alternativ­e: Sieg oder vollständi­ge Niederlage. Mit Georges Clemenceau und David Lloyd George stehen inzwischen in Großbritan­nien und Frankreich Männer an der Regierungs­spitze, die diese Entschloss­enheit ihrerseits verkörpern. Ende 1917 glauben alle Seiten an die Möglichkei­t eines Sieges, auch das Kaiserreic­h, obwohl der Krieg auf dem Papier für Deutschlan­d verloren ist. Aber bis die Amerikaner in nennenswer­ter Zahl in Frankreich stehen, dauert es noch; eine letzte Offensive ist möglich. Im Frühjahr 1918 bringt sie die Briten und Franzosen noch einmal in Not, die Niederlage aber kann sie nicht mehr abwenden. Umso größer ist der Schock, als der deutschen Öffentlich­keit 1918 die Katastroph­e klar wird.

1917 wachsen auf der Linken die revolution­ären Hoffnungen. 1917 wächst auch die Spannung zwischen Realität und militärisc­hem Anspruch noch einmal. Ein knappes Jahr noch wird dieser Spannungsb­ogen halten, dann bricht er zusammen. Für das Kaiserreic­h ist es die Stunde der Niederlage. Quer über den Kontinent ist es die Stunde der Extremiste­n.

Woodrow Wilson Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. Beck, 1168 S., 38 Euro. Michael Salewski: Der Erste Weltkrieg. Schöningh, 415 S., 38,90 Euro. Lebendiges Museum Online: Projekt des Deutschen Historisch­en Museums, des Hauses der Geschichte der Bundesrepu­blik und des Bundesarch­ivs: www.dhm.de/lemo Ein deutsches Plakat wirbt für die neue Kriegsanle­ihe und für die neuartigen U-Boote.

im Atlantik. britischen­Frachter Boot versenkt einen Ein deutsches U- Der Weg an die Macht: Bolschewis­tische das Winterpala­is Revolution­äre stürmen

in Petrograd.

Uncle Sam ruft: Dieses Plakate entwirft James Mont

die Armee um Rekruten.

„Das Recht ist kostbarer als der Frieden“

US-Präsident, am 2. April 1917 vor dem Kongress

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