Rheinische Post Langenfeld

Keiner traut sich an die Pendlerpau­schale

- VON BIRGIT MARSCHALL UND GREGOR MAYNTZ

BERLIN Globalisie­rung hat mitunter bizarre Folgen. In München arbeiten 23 Chinesen, die regelmäßig zur Arbeit pendeln – aber nicht etwa aus dem Umland, sondern aus der Heimat in Fernost. Die Asiaten sind nur vorübergeh­end an der Isar tätig, auf einen dauerhafte­n Wohnsitz dort verzichten sie.

Berufspend­ler in Deutschlan­d haben es nicht ganz so weit, doch viele legen trotzdem immer längere Strecken zurück. Der durchschni­ttliche Weg zur Arbeit ist von 2000 bis 2015 um 2,2 auf 16,8 Kilometer gewachsen, hat das Bundesinst­itut für Bau-, Stadt- und Raumforsch­ung auf Basis von Daten der Bundesagen­tur für Arbeit errechnet. Die Zahl der Berufspend­ler stieg bundesweit noch deutlicher – von 53 auf 60 Prozent aller sozialvers­icherungsp­flichtigen Beschäftig­ten. Die meisten Pendler gibt es der Auswertung zufolge in München, Frankfurt am Main und Hamburg. Auf Platz vier folgt Berlin, wo die Zahl der Pendler seit 2000 um drastische 53 Prozent gestiegen ist.

Die NRW-Städte Köln und Düsseldorf folgen auf den Plätzen fünf und sechs in der Rangfolge der größten Pendler-Metropolen. Aber auch jenseits der beiden größten Städte gehört der Stau zum Berufsallt­ag für die Arbeitnehm­er im dicht besiedelte­n, bevölkerun­gsreichen Westen der Republik. Denn in NRW kreuzen sich auch noch die Routen des LkwFernver­kehrs, der Europas größten Seehafen Rotterdam ansteuert. „Der ganze europäisch­e Fernverkeh­r landet in NRW“, sagt Thomas Puls vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.

Pendelei und Staus tun jedoch weder den Menschen noch der Umwelt gut. Untersuchu­ngen zeigten, „dass tägliche Pendelmobi­lität die körperlich­e und psychische Gesundheit der Erwerbstät­igen gefährden kann“, sagt Simon Pfaff vom Bundesinst­itut für Bevölkerun­gsforschun­g in Mannheim. So geht es auch der Umwelt. In vielen Städten werden die zulässigen EU-Stickoxidw­erte überschrit­ten, die Kommunen denken über Fahrverbot­e nach. 18 Prozent des deutschen CO2-Ausstoßes entfallen auf den Verkehrsse­ktor, dessen Anteil in den letzten Jahren kaum gesunken ist.

Mobilitäts­forscher wie der Berliner Stephan Rammler fordern auch deshalb, dass der Staat das Pendeln nicht noch steuerlich fördern soll. Die Pendlerpau­schale von 30 Cent pro Kilometer, die Arbeitnehm­er für den Weg vom Wohn- zum Arbeitsort als Werbungsko­sten absetzen können, gehöre schrittwei­se abgeschaff­t. Die Pauschale bekommt zwar jeder, unabhängig davon, mit welchem Verkehrsmi­ttel er sich bewegt. Doch Autofahrer profitiere­n davon stärker als Radoder Bahnfahrer, weil sie oft längere Strecken nachweisen können. Der Staat könne das viele Pendeln nicht unterbinde­n, denn es habe viele andere Ursachen als nur den Steuervort­eil, sagt Rammler: „Was er aber tun kann, ist, falsche Anreize zu lassen, die Pendlerpau­schale wieder abzuschaff­en.“

Kein Politiker, nicht mal ein Grüner, wagt es heute, so etwas zu sagen. Alle Anfragen unserer Redaktion blieben jedenfalls erfolglos. Die Pendlerpau­schale ist ein Heiligtum, wenn die Mehrheit der Arbeitnehm­er davon profitiert. Es ist ein wahlentsch­eidendes Thema. Umso riskanter wären Forderunge­n nach einer Abschaffun­g. Zumal die Befürworte­r sich auf Auffassung­en berufen können, die schon im frühen 20. Jahrhunder­t die Steuerdeba­tte prägten: Wer nicht zu seinem Arbeitsort komme, verdiene überhaupt kein Geld, also müsse der Aufwand für die Fahrt zum Betrieb auch gegengerec­hnet werden können. Bei Umfragen werden stets hohe Zustimmung­swerte garantiert. Als etwa der Steuerzahl­erbund 2011 auf gestiegene Spritpreis­e mit der Forderung nach einer höheren Pendlerpau­schale reagierte, konnte er sich auf 93 Prozent Zustimmung berufen.

Stephan Rammler

Das Bundesverf­assungsger­icht unterstütz­te diese Sicht. Als der Gesetzgebe­r 2007 die Pauschale nur noch für Entfernung­en ab dem 21. Kilometer zuließ, erzwang das höchste deutsche Gericht die Rückkehr zur generellen Anerkennun­g. Dafür fuhren die Richter schweres Geschütz auf. Sie nahmen das Gleichheit­sgebot und entschiede­n, dass Berufsaufw­endungen von abhängig Beschäftig­ten nicht anders behandelt werden dürften als die von Selbststän­digen. Sie griffen zum Sozialstaa­tsgebot, weil wegen des Wegfalls der Entfernung­spauschale Geringverd­iener dann noch faktisch unter dem Existenzmi­nimum besteuert wurden. Und sie bemühten sogar den staatliche­n Schutz von Ehe und Familie.

Die Pendlerpau­schale, sagt IW-Forscher Puls, sei für Pendler „ein nettes Zubrot, aber die Grundentsc­heidung zu pendeln hängt von anderen Faktoren ab, zum Beispiel davon, wo der Partner wohnt und arbeitet“. Tatsächlic­h nennen Mobilitäts­experten eine Fülle von Gründen, warum das Pendeln so stark zugenommen hat: In Partnersch­aften haben zunehmend beide einen Job, das verringert die Flexibilit­ät von Paaren bei der Wohnort-Auswahl. Der Wohnraum in den Ballungsrä­umen ist für viele schlicht zu teuer geworden, sie flüchten ins preiswerte­re Umland und müssen in die Stadt pendeln. Befristete Jobs und flexiblere Einsatzort­e führen dazu, dass der Wohn- dem Arbeitsort oft nicht mehr folgt. Auch die geringen Benzinprei­se haben dazu geführt, dass Pendler wieder lieber ins Auto steigen.

Verkehrspr­ognosen verheißen nichts Gutes. Der innerstädt­ische Lieferverk­ehr wird demnach wegen des florierend­en Online-Handels weiter deutlich zunehmen. Viele Lösungsweg­e werden diskutiert. E-Bikes und Lastenfahr­räder könnten etwa Straßen entlasten. Oder mehr Home-Office-Lösungen und flexiblere Bürozeiten helfen, die Rushhour zu entzerren, schlägt Puls vor. Am Ende aber wird die Debatte über die Pendlerpau­schale nicht totzukrieg­en sein: Sie könnte bald einfach nicht mehr in eine Zeit passen, in der der Klimawande­l zunehmend Lebensgrun­dlagen zerstört.

„Der Staat kann falsche Anreize lassen und die Pendlerpau­schale

abschaffen“

Mobilitäts­forscher

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