Rheinische Post Langenfeld

Das Dilemma der Migranten

- VON MARTIN BEWERUNGE

Imame, die mitten in Deutschlan­d in den Gotteshäus­ern der Muslime gegen Integratio­n wettern. Tausende Deutschtür­ken, die in der Bundesrepu­blik das von Ankara gesteuerte Werben für ein Referendum bejubeln, mit dem der türkische Präsident Erdogan über fast diktatoris­che Vollmachte­n verfügen würde. Eine Staatssekr­etärin muslimisch­en Glaubens in der Berliner Senatskanz­lei, die die Scharia für „absolut kompatibel“mit dem Grundgeset­z hält. Nicht zuletzt die Aufgabe, mehr als eine Million Menschen einzuglied­ern, die allein seit Anfang 2015 aus Ländern hierher geflüchtet sind, in denen weder Demokratie noch Gleichbere­chtigung noch die freie Entfaltung der Persönlich­keit ihre Lebenswirk­lichkeit prägten – all das wirft Fragen auf: Welchen Stellenwer­t hat Demokratie für Migranten? Denken sie anders über Demokratie als Deutsche?

„Die vielen Deutschtür­ken, die mit Erdogans Ansichten nicht übereinsti­mmen, kommen kaum zu Wort“, antwortet Ahmet Toprak. Der Professor für Erziehungs­wissenscha­ften und Dekan der Fachhochsc­hule Dortmund hält den aktuellen Eindruck für verzerrt: „Selbst die, die Erdogan zujubeln, sind längst nicht ganz auf seiner Seite. Was diese meist jungen Leute erreichen wollen, ist, überhaupt wahrgenomm­en zu werden.“

Toprak, selbst Kind türkischer Gastarbeit­er, verweist auf ein Dilemma der in dritter Generation in Deutschlan­d lebenden Türken: „Eine Vielzahl unter ihnen fühlt sich zu kurz gekommen. Für sie ist Erdogan eine Art Vaterfigur. Er verkörpert identitäts­stiftende Werte, die die Jungen umso mehr schätzen, als sie sie im Gegensatz zu ihren Großeltern nie gelebt oder erfahren haben.“

Gleichwohl attestiert Toprak einem Teil der aus der Türkei Eingewande­rten ein ambivalent­es Verhältnis zur Demokratie: „In Deutschlan­d fordern sie für sich gleiche Rechte und Redefreihe­it, in der Türkei aber werden Einschränk­ungen, etwa in Bezug auf Minderheit­en, akzeptiert. Diese Doppelmora­l erlebt man nicht selten.“Hinzu komme, dass das Gesellscha­ftsbild vieler Türken und anderer Zu- wanderer weiterhin religiös-patriarcha­lisch geprägt sei: „Gleichbere­chtigung? Toleranz gegenüber Andersdenk­enden? Das Recht auf Selbstbest­immung in einer offenen Gesellscha­ft? Das haken bei Weitem nicht alle unter Demokratie ab.“

Nun ist es nicht so, als wären hierzuland­e auf dem Boden des Grundgeset­zes lauter lupenreine Demokraten gewachsen. In Ostdeutsch­land ist auch mehr als 26 Jahre nach der Wiedervere­inigung ein Fremdeln mit der Freiheit spürbar. Hüben wie drüben hadern Deutsche mit den Zumutungen der offenen Gesellscha­ft. Das macht sie noch nicht zu Verfassung­sfeinden. Die Grenze liegt da, wo die freiheitli­ch-demokratis­che Grundordnu­ng in Zweifel gezogen wird, wo Fundamenta­listen die Religion darüber stellen, genau wie wenn „Reichsbürg­er“die Existenz der Bundesrepu­blik leugnen.

Auch Gewalt überschrei­tet diese Grenze klar. Der Migrations­forscher Ruud Koopmans vom Wissenscha­ftszentrum Berlin verweist auf eine Studie im Auftrag des Bundesinne­nministeri­ums, bei der 2007 herauskam, dass acht Prozent der Muslime in Deutschlan­d damit einverstan­den sind, Gewalt gegen Ungläubige anzuwenden, wenn es der islamische­n Gemeinscha­ft dient. Wie verbreitet islamisch-fundamenta­listische Einstellun­gen in Deutschlan­d sind, geht auch aus einer Untersuchu­ng der Universitä­t Münster von 2016 hervor: 47 Prozent der befragten Muslime mit türkischen Wurzeln stimmten dem Satz zu: „Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe.“Fast 60 Prozent der Muslime stehen hinter dem Satz „Zurück zu den Wurzeln“, während nur 20 Prozent Christen ihn unterschre­iben .

Inzwischen haben mehr als 17 Millionen Menschen in Deutschlan­d einen Migrations­hintergrun­d; das sind mehr als 20 Prozent der Bevölkerun­g. Die drei wichtigste­n Herkunftsl­änder sind nach wie vor die Türkei, Polen und die Russische Föderation. Unter den Flüchtling­en, die Deutschlan­d 2015/2016 erreichten, bilden Syrer, Afghanen und Iraker die stärksten Gruppen.

Fragt man jene, die die Gefahren der Flucht auf sich genommen haben, nach

Deutschlan­d bis 2015

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