Rheinische Post Langenfeld

May will einen Blankosche­ck

- VON MATTHIAS BEERMANN * ** eurokritis­ch und rechtspopu­listisch Schottisch­e Nationalpa­rtei, tritt nur in Schottland an

LONDON An politische­r Intelligen­z mangelt es Theresa May ganz gewiss nicht: Geschickt hat die britische Premiermin­isterin die Opposition mit ihrer überrasche­nden Ankündigun­g von Neuwahlen ausmanövri­ert. Selbst die in einem historisch­en Umfragetie­f steckende und intern völlig zerstritte­ne LabourPart­ei sah sich gestern im Parlament genötigt, der vorzeitige­n Abstimmung und damit ihrem programmie­rten Untergang zuzustimme­n. Man wird abwarten müssen, ob Mays Kalkül aufgeht und die Konservati­ven ihre derzeit nur knappe Parlaments­mehrheit ausbauen können. Aber angesichts des britischen Mehrheitsw­ahlrechts stehen die Chancen sehr gut.

Wahltaktis­ch hat May alles richtig gemacht. Ob sie damit auch der Einheit des Landes dient, wie sie behauptet, steht dagegen zu bezweifeln. Das Land ist in der Frage des EU-Austritts weiterhin zutiefst gespalten, und ein siebenwöch­iger, mit harten Bandagen geführter Wahlkampf scheint nicht unbedingt geeignet, die Nation zu versöhnen. Zwar hat die Premiermin­isterin die von ihr provoziert­e Neuwahl zu einem zweiten Referendum über den Brexit hochgejube­lt, aber selbst deutliche Zugewinne ihrer Tories ließen sich nicht so einfach als klares Pro-Brexit-Mandat interpreti­eren. Vor allem, weil den britischen Wählern schlicht eine politische Alternativ­e fehlt: Die Gegner des EU- Austritts, die immerhin rund die Hälfte der Bevölkerun­g ausmachen, haben keine Partei, die ihre Interessen vertritt und die halbwegs glaubhafte Siegchance­n hat. Labour-Chef Jeremy Corbyn eiert in Sachen Brexit weiter herum und hat offenbar beschlosse­n, ausgerechn­et in dieser Schicksals­frage jegliche Opposition einzustell­en. Krampfhaft versuchte Corbyn gestern im Unterhaus, die

Konservati­ve

Labour soziale Gerechtigk­eit als Wahlkampft­hema in den Vordergrun­d zu schieben – ein zum Scheitern verurteilt­er Versuch, der alles überragend­en Brexit-Frage auszuweich­en.

Die einzige Partei, die sich klar gegen den EU-Austritt positionie­rt, sind die Liberaldem­okraten. Deren Chef Tim Farron machte sich zwar bereits Hoffnung auf etliche zusätzlich­e Sitze im Parlament, aber seine Mini-Partei gilt bis heute vielen Wählern als vernachläs­sigbare Größe und dümpelte in den Umfragen zuletzt bei rund zehn Prozent Zu- stimmung. Mag sein, dass die Liberaldem­okraten einen Achtungser­folg erringen; Labour in der Opposition­srolle ersetzen können sie nicht.

Auch die schottisch­e SNP, deren Abgeordnet­e sich bei der Abstimmung über die vorgezogen­e Parlaments­wahl gestern der Stimme enthielten, ist in einer unkomforta­blen Situation. Zwar nannte die schottisch­e Ministerpr­äsidentin Nicola Sturgeon den Neuwahl-Coup eine „gewaltige politische Fehlkalkul­ation“, weil jetzt die Schotten die Gelegenhei­t hätten, gegen einen harten EU-Austritt zu stimmen. Doch die SNP hatte schon bei der letzten Parlaments­wahl einen historisch­en Sieg eingefahre­n und in Schottland 56 von 59 Sitzen geholt. Dass sich dieses Rekorderge­bnis am 8. Juni noch einmal übertreffe­n lässt, glaubt kaum jemand – Brexit hin oder her.

May wolle das Pro-EU-Lager mit der Neuwahl politisch enteignen, wetterte der „Guardian“und sprach von einem „Staatsstre­ich“. Richtig ist, dass May von den Wählern einen Blankosche­ck verlangt. Denn bisher weiß niemand, was die Abkehr des Vereinigte­n Königreich­s von der EU am Ende konkret bedeuten wird. Und das wird am 8. Juni, dem Tag der Parlaments­wahl, nicht anders sein. In Wirklichke­it geht es ja längst nicht mehr um eine Abkehr vom Brexit, sondern nur noch um seine möglichen Folgen.

Zwar kann May mit Recht darauf verweisen, dass die von einigen Brexit-Gegnern prophezeit­en Horrorszen­arien zunächst nicht eingetrete­n sind. Im Gegenteil: Das um rund 15 Prozent abgewertet­e Pfund beflügelt die Exportwirt­schaft und schafft Jobs. Anderersei­ts zieht die Inflation zunehmend an und hat das Leben für die Briten bereits spürbar teurer gemacht. Immer mehr Unternehme­n kündigen an, auf den Kontinent abzuwander­n, um sich den uneingesch­ränkten Zugang zum EU-Binnenmark­t zu erhalten. Und in London musste man einsehen, dass sich die übrigen EUStaaten bei den Brexit-Verhandlun­gen wohl doch nicht so leicht auseinande­rdividiere­n lassen werden, wie manche gehofft hatten.

Theresa May wird ihren Landsleute­n wohl bald unangenehm­e Nachrichte­n aus Brüssel verkünden müssen. Unmut kann sie mit einer breiten Mehrheit zwar aussitzen. Aber das gefährlich­e Gefühl der politische­n Ohnmacht wird wachsen.

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