Die Diamanten von Nizza
In einem Spitzenhotel wie dem Negresco sieht man es nicht gerne, wenn die Polizei nachts durch die Gänge eilt. Das macht die Gäste nervös.“Sie fuhren an den Straßenrand und parkten etwa fünfzig Meter hinter dem Hoteleingang. Marc und René kamen ihnen entgegen, als sie aus dem Auto stiegen, und bestätigten, dass vor zehn Minuten ein roter Fiat 500 in den privaten Parkbereich des Hotels gefahren war.
Der Nachtportier, ein weltgewandter und hilfsbereiter junger Mann, erwies sich als einsichtig und kooperativ. Ja, er schien sogar erfreut über die Abwechslung, die eine Polizeirazzia im Zuge einer „höchst delikaten Angelegenheit“bot, wie Laffitte ihm anvertraute. Er bestand jedoch darauf, sie zu Cocos Suite zu begleiten – ganz, wie es die Hotelvorschriften verlangten.
Sam klopfte, und Coco öffnete die Tür. Sie hielt ein Glas Wein in der Hand und hatte ihre Schuhe abgestreift, wie es Frauen nach Verrichten ihres anstrengenden Tagwerks gern zu tun pflegen. Sie blickte Sam verwundert an. „Sam? Was machen Sie denn hier? Wer sind diese Leute?“
„Die Polizei, bedauerlicherweise. Können wir drinnen weiterreden.“„Worüber?“Laffitte trat einen Schritt vor. „Madame, wir haben einen Durchsuchungsbeschluss und müssen mit Ihnen reden. Bitte.“
„Das ist ungeheuerlich! Aber wenn Sie müssen, kommen Sie eben rein.“
Sie hatte vor dem Tisch Aufstellung genommen, die Hände in die Hüften gestemmt, und funkelte sie wütend an. „Also, was ist los?“
Laffitte seufzte. „Ich bin sicher, Sie wissen, warum wir hier sind. Wir haben beobachtet, wie Sie heute Abend das Haus der Fitzgeralds auf Cap Ferrat betreten haben.“„Ja und?“„Was hatten Sie dort zu suchen?“„Das geht Sie nichts an. Aber wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Ich habe den Besitzern einen Gefallen erwiesen.“Sie holte ihr Smartphone hervor und scrollte zu Kathys Mailbox-Nachricht zurück. „Bitte sehr. Hören Sie.“Sie reichte es Laffitte und trat einen Schritt zur Seite; dabei wurde ein kleiner Rucksack sichtbar, der auf dem Tisch lag. Sam sah, dass Laffitte ihn ebenfalls bemerkt hatte.
Er hörte sich die Nachricht an. „Erledigen Sie solche Aufträge immer nachts?“
Coco zuckte die Achseln. „Ich war den ganzen Tag in Antibes, danach bin ich zum Essen ausgegangen. Und im Anschluss daran zum Anwesen der Fitzgeralds gefahren. Hören Sie, was Sie sich da herausnehmen, ist einfach unerträglich. Bitte gehen Sie, auf der Stelle.“
„Natürlich“, erwiderte Laffitte. „Doch bevor ich Ihrer Bitte entspreche, möchten Sie mir vielleicht noch zeigen, was sich in diesem Rucksack befindet.“
Coco nahm den Rucksack, öffnete ihn und brachte nach und nach den Inhalt zum Vorschein: eine Taschenlampe, eine Schachtel Kosmetiktücher, mehrere Schlüssel und ein Paar schwarze Baumwollhandschuhe. Sie stülpte das Innere des leeren Rücksacks nach außen und schob ihn zu Laffitte hinüber. „Zufrieden?“
„Wissen Sie was?“, flüsterte Sam Laffitte zu. „Wir befinden uns auf der falschen Fährte. Sie muss auf dem Weg hierher irgendwo ihre Beute deponiert haben.“
Laffitte nahm Marc und René bei- seite. „Ihr bleibt hier, lasst sie nicht aus den Augen. Sie darf den Raum weder verlassen noch telefonieren. Ist das klar?“
Sam, Laffitte und der Nachtportier, der die Szene leicht verwirrt, aber neugierig verfolgt hatte, kehrten in die Rezeption zurück, wo man ihnen bestätigte, dass sich Alex Dumas derzeit in seinem Zimmer aufhielt.
„Dieses Mal klopfen wir nicht an“, ordnete Laffitte an und drehte sich zu dem Nachtportier um. „Nehmen Sie den Generalschlüssel mit.“
„Das kann ich nicht machen. Das verstößt gegen die Hotelvorschriften . . .“
Capitaine Laffitte warf ihm einen drohenden Blick zu, der seine Wirkung nicht verfehlte.
„. . . es sei denn, es liegen außergewöhnliche Umstände vor.“
„Glauben Sie mir, die sind gegeben“, entgegnete Laffitte trocken. „Gehen wir.“
Im Fahrstuhl, der sie in Dumas Suite hinaufbrachte, zwinkerte Laffitte Sam zu. „Wir haben es gleich geschafft.“Sam drückte die Daumen.
Sie verließen den Fahrtstuhl, schlichen auf Zehenspitzen den Gang entlang, steckten den Generalschlüssel ins Schloss, und die Tür ging auf. Und dort saß er, Alex Dumas, völlig versunken in seine Tätigkeit. Er hatte die Ellbogen auf der Tischkante abgestützt und hielt eine Lupe dicht unter seinen Augen. Mit der Pinzette fasste er einen funkelnden Stein und drehte ihn, um ihn von allen Seiten betrachten zu können. Eine Kaltlichtlampe, nah an der Lupe, gab das nötige Licht. Auf dem Tisch lag, auf weißem Untergrund, ein ganzer Berg weiterer edler Stein. Es dauerte eine Weile, bis der völlig in die Bewunderung die- ser Steine, die offenbar keinerlei Einschüsse aufwiesen und lupenrein waren, versunkene Alex Dumas gewahrte, dass er nicht mehr allein im Zimmer war. Für einen Moment bewunderte Sam Levitt diese völlige Hingabe an das Handwerk.
Sam spürte, wie ihn eine riesige Welle der Erleichterung überkam. „Und haben Sie überprüfen können, ob auch das GIA (Gemological Institute of America) Zertifikat mit Laser in die Diamanten eingraviert worden ist, wie es bei anerkannten Labors so üblich ist?“, fragte er spöttisch. „Das soll ja für den Weiterverkauf nicht ganz unwichtig sein.“
25. KAPITEL
Elenas Stimme am anderen Ende der Leitung wirkte wie eine eiskalte Dusche. „Du hattest also recht, und ich habe mich geirrt. Na und?“
Sam seufzte. „Tut mir leid. Wird nicht wieder vorkommen. Hör mal, ich fahre im Laufe des Tages zurück. Können wir dann darüber reden?“Keine Antwort. „Elena?“Aber sie hatte das Gespräch bereits beendet, ein enttäuschender Beginn eines Tages, der sich vermutlich auch im weiteren Verlauf als ernüchternd erweisen würde. Nach der Euphorie der vergangenen Nacht, in der er von Laffitte und seinen Männern mit Glückwünschen überhäuft worden war, stand ihm jetzt die Aufgabe bevor, Reboul die Hiobsbotschaft zu überbringen. Möglicherweise würde sich das als weiterer unangenehmer Augenblick entpuppen, trotz Rebouls Überzeugung, dass Coco bereit war, für Geld alles zu tun. Angesichts dessen wäre es vielleicht am besten, das Thema von Angesicht zu Angesicht zur Sprache zu bringen. (Fortsetzung folgt)