Beschneidung ist ein Akt der Gewalt
Der Düsseldorfer Psychotherapeut warnt vor den verheerenden gesundheitlichen Folgen, die Beschneidungen haben können.
DÜSSELDORF Ein Junge im Vorschulalter entwickelt plötzlich Angstzustände und einen Waschzwang. Die Eltern berichten von einer medizinisch nicht indizierten Beschneidung wenige Wochen zuvor, sie sind nicht in der Lage, einen Zusammenhang herzustellen. Ein Vierjähriger verliert durch eine Beschneidung seine Eichel. Der Vater hält diesen Moment mit der Kamera fest. Allein in Deutschland werden jedes Jahr etwa 400 Jungen nach einer Beschneidung schwer verletzt in Kliniken aufgenommen.
Auch wenn man immer wieder anderslautende Behauptungen vernimmt: Aus medizinischer Sicht gibt es keinen Grund, einem gesunden kleinen Jungen seine gesunde Vorhaut abzuschneiden. Die Evolution bringt keine überflüssigen Körperteile hervor. Wie soll sich ein säkularer Staat verhalten, wenn religiöse Traditionen und Glaubensbedürfnisse von Erwachsenen an den Körpergrenzen von Kindern nicht inne halten? Das deutsche Parlament hat sich entschieden. Und die Jungen sind dabei auf der Strecke geblieben.
Am 7. Mai jährt sich zum fünften Mal die Verkündung des „Kölner Beschneidungsurteils“. Das Kölner Landgericht bewertete eine medizinisch nicht-indizierte operative Vorhautentfernung an nicht einwilligungsfähigen Jungen als eine strafbare Körperverletzung. Religionsverbände empfanden das Urteil als Angriff auf ihre Religion und Kultur. Von Ärzteorganisationen, Psychoanalytikern, Menschen-, Frauenund Kinderrechtsverbänden wurde es als Impuls für den Kinderschutz verstanden. Sie forderten auch die leidvoll betroffenen Opfer und nicht nur Religionsvertreter zu hören. Unter deren Druck gestattete der deutsche Gesetzgeber Eltern schon wenige Monate später im neu geschaffenen §1631d BGB, aus jeglichem Grunde in eine medizinisch nicht notwendige Vorhautentfernung ihres Sohnes rechtswirksam einzuwilligen.
Dieser mit zumeist verschwiegenen jedoch schweren medizinischen Risiken verbundene Eingriff enthält eine Botschaft der Gewalt. Sie bewirkt bei vielen Jungen starke und bleibende Ängste um ihre Männlichkeit und als Absicherungsreaktion dagegen einen hochkränkbaren männlichen Ehrbegriff. Dies gilt speziell dann, wenn die Beschneidung im Vorschulalter erfolgt, weil in dieser Entwicklungsphase Jungen besonders große Ängste um ihr Glied haben.
Aus psychoanalytischer Sicht kann eine traumatische Erfahrung in dieser Phase eine Entwicklungsblockade nach sich ziehen. Die Konsolidierung der persönlichen sexuellen Identität und eine realitätsgerechte Wahrnehmungsorganisation kann bleibend beeinträchtigt werden. Der Direktor der größten Pariser Moschee, der Muslim Boubakeur, stellt Teilen des Islam diese Diagnose aus ( und erhält deshalb Morddrohungen). Die projektive Abwehr sexueller Impulse und para- noide Ängste vor weiterer Verletzung behindern dann eine faktenbasierte Sicht auf die Realität und bewirken aus dem erlittenen Trauma heraus ein Lebensgefühl durchdringender Gefährdung und Verfolgung.
Nicht selten resultiert auch ein Vertrauensbruch in der Elternbeziehung; und als kindlicher Bewältigungsversuch dieser verunsichernden Erfahrung bleibt als einziger Ausweg eine Identifikation mit dem väterlichen Aggressor und eine hieraus erwachsende patriarchalische Loyalität. Diese stabilisiert die transgenerationale Wiederholung des Rituals, da dann auf Kosten der eigenen Kinder die selbst erlittene Beschneidung durch die eigenen Eltern verklärt werden kann. So kann es zu einer legitimierenden Verinnerlichung schneidender Gewalt als Handlungsoption kommen. Und die Empathie für die Ängste und Schmerzen des eigenen Kindes bleiben auf der Strecke, um nicht an die eigenen erinnert zu werden. Handeln im Tätermodus erspart wie so oft das Erinnern im Opfermodus.
Zudem: Die auf die Mutter gerichtete Enttäuschungswut, zu der besonders in patriarchalisch geprägten Kulturen vor der Beschneidung eine wechselseitige Idealisierungsbeziehung bestand und die trotzdem die Beschneidung nicht verhinderte, kann nach diesem abrupten Bruch dann später einen tiefen Groll und Ängste vor einer unkontrollierten Weiblichkeit und einer selbstbestimmten weiblichen Sexualität bewirken.
Die Psychoanalyse – ihr genialer und mutiger Begründer Sigmund Freud ließ seine Söhne übrigens nicht beschneiden – kann heute auf guter empirischer Basis zwei Grundsätze des Kindeswohls formulieren: Erstens – man tut Kindern nicht weh, weil jeder Schmerz bleibende Spuren hinterlässt. Zweitens: Erwachsene haben an den Genitalien von Kindern nichts zu suchen. Der Verstoß gegen diese einfachen Grundsätze des Kinderschutzes birgt hohe Risiken für den einzelnen Betroffenen aber auch für die Gesellschaft.
Denn am Umgang mit den Schwächsten entscheidet sich auch der zivilisatorische Prozess der Aggressionsbindung innerhalb einer Gesellschaft. Und die latente Botschaft, die vom patriarchalischen Branding der Beschneidung ausgeht, lautet: Der Stärkere darf, weil er stärker ist, dem Schwächeren, weil er schwächer ist, im Namen eines Gottes Körperteile abschneiden. Das ist der transgenerational vermittelte Kern des Rituals, das üb- rigens wesentlich älter ist als alle abrahamitischen Religionen.
Als ordnungsstiftendes patriarchalisches Rechtsinstitut mag es in frühgeschichtlichen Kulturen der Aggressionskontrolle gedient und die Gruppenkohäsion angesichts einer bedrohlichen Umwelt gefördert haben. Die religiöse Sanktionierung dieses Rituals durch eine bei Nichtbefolgung des Gebots vernichtungsbereite Gottheit stellt einen erklärenden Mythos zur Verfügung, der kollektiv tradierbar und exklusiv identitätsstiftend ist. Er entzieht die unbewussten Motivstrukturen einer analytischen Betrachtung jedoch bis heute. Die verletzten Opfer der Beschneidung und eine aufgeklärte Gesellschaft brauchen aber den unverstellten Blick auf das schmerzhafte Geschehen – auch wenn es hinter der Fassade der Religionsfreiheit verborgen werden soll.