Rheinische Post Langenfeld

Was der Brexit die Briten kostet

- VON ANTJE HÖNING

BRÜSSEL Immerhin eines verbindet Michel Barnier, den Brexit-Beauftragt­en der EU-Kommission, und Theresa May, die britische Premiermin­isterin: Beide lieben das Bergwander­n. Langen Atem haben, Umwege über heikle Passagen finden und am Ende gemeinsam die Aussicht vom Gipfel genießen. Doch davon sind die Verhandlun­gen über den EU-Austritt Großbritan­niens noch weit entfernt. Der Berg an Arbeit ist gewaltig, die Stimmung mies. Das Misstrauen wächst, seit Details über das Brexit-Dinner zwischen May, Barnier und EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker an die „Frankfurte­r Allgemeine Sonntagsze­itung“durchgesto­chen wurden. Und bei allem dämmert den Briten nun, dass der Austritt für sie viel teurer werden wird, als ihre Politiker es ihnen zum Zeitpunkt des Referendum­s gesagt haben. Die Brexit Bill der EU Die offizielle Rechnung für den Austritt („Brexit Bill“) ist noch nicht geschriebe­n. Doch in Brüssel gilt es als offenes Geheimnis, dass mindestens 60 Milliarden Euro fällig werden. So hat die Ideenfabri­k „Centre for European Reform“einmal alle naheliegen­den Posten addiert: Dazu gehören allein 14 Milliarden Euro, die die Briten noch für die Finanzieru­ng der europäisch­en Fonds für regionale Entwicklun­g, für Soziales und den Strukturfo­nds zahlen müssen. Fast acht Milliarden schwer sind die Pensionsve­rpflichtun­gen, die London für seine Staatsbürg­er hat, die bei der EU-Kommission beschäftig­t waren oder sind. 29 Milliarden Euro stehen noch für diverse Zahlungser­mächtigung­en aus, die die Briten in der Vergangenh­eit erteilt haben – für Förderproj­ekte aller Art wie Landwirtsc­haft und Infrastruk­tur. Zwei weitere Milliarden müssen die Briten an Junckers Investitio­nsfonds zahlen. Und so weiter. Alle diese Fonds haben die Briten gemeinsam mit den anderen 27 Mitgliedst­aaten vereinbart, für diese Zusagen müssen sie nun geradesteh­en. Zum Vergleich: 60 Milliarden Euro sind etwa fünfmal so viel, wie die Briten zuletzt im Jahr netto an den EUHaushalt zahlten. Diese 60 Milliarden dürften für die Rest-EU das Minimum sein, was sie heraushole­n will. „Es handelt sich weder um eine Bestrafung noch um eine Austrittss­teuer. Wir müssen die Rechnungen begleichen, nicht mehr und nicht weniger“, sagte Barnier. Anders formuliert: Wer einst mitbestell­t hat, muss auch mitbezahle­n. Die Drohkuliss­e Die Rechnung könnte aber auch viel höher ausfallen. Vor wenigen Tagen war in der „Financial Times“von 100 Milliarden Euro die Rede. Das habe man auf Grundlage neuer Forderunge­n aus Deutschlan­d, Polen und Frankreich errechnet, hieß es. Dabei haben die Autoren auch Posten wie die Agrarhilfe für 2019 und 2020 aufgenomme­n. Im März 2019 will Großbritan­nien zwar schon aus der EU ausgetrete­n sein, doch den bis 2020 geltenden Haushaltsp­lan hat die EU schon 2014 verabschie­det – mit Zustimmung der Briten. Von der Sorte gibt es weitere Verpflicht­ungen, die Brüssel den Briten anhängen könnte: etwa die Beteiligun­g am Türkei-Flüchtling­sprogramm oder der Ukraine-Hilfe. Offiziell hat die EU die 100-Milliarden-Rechnung weder bestätigt noch dementiert. Womöglich ist sie auch nur eine Drohkuliss­e, mit der die Europäer klarmachen wollen: Je halsstarri­ger May sich anstellt, desto teurer kann die Scheidung werden. Da hilft es wenig, dass ihr Brexit-Minister David Davis im britischen Sender ITV erklärte, man werde keine 100 Milliarden Euro zahlen. Sein Land bezahle nur das, wozu es gesetzlich verpflicht­et sei, und nicht das, was die EU fordere.

Zugleich wird die EU kein Rosinenpic­ken erlauben. Deshalb beharrt Brüssel auch darauf, erst den Austrittsv­ertrag auszuhande­ln, der neben der „Brexit Bill“auch Abmachunge­n über die Rechte der 3,2 Millionen in Großbritan­nien lebenden EU-Bürger umfasst. Erst im zweiten Schritt will die EU über das neue Freihandel­sabkommen sprechen, das der britischen Wirtschaft künftig Zugang zum europäisch­en Markt ermögliche­n soll, nachdem diese den Binnenmark­t aufgegeben hat.

Bis Oktober 2018 Bis Februar 2019 Ratifizier­ung des Vertrags durch das EU-Parlament und die 27 Staaten der Rest-EU März 2019 Die britische Mitgliedsc­haft in der EU endet. Die Kosten für die Bürger Im Alltag bekommen viele Briten schon jetzt die Folgen des Brexit zu spüren. Die Verbrauche­r sind verunsiche­rt, die Nachfrage nach Häusern sinkt. Banken vergaben im März so wenige Hypotheken­kredite wie seit einem halben Jahr nicht mehr, erklärte gestern die britische Notenbank. Der Schwung bei Konsumente­nkrediten lasse ebenfalls nach. Das drückt die Stimmung der Verbrauche­r und Unternehme­n. Ebenso planen Firmen vor allem aus der Finanzbran­che für die Zeit danach. Die Deutsche Bank hat vor einer Woche angekündig­t, dass sie bis zu 4000 ihrer Arbeitsplä­tze von Großbritan­nien auf den Kontinent verlagern könnte. Die US-Bank Goldman Sachs will 1000 Stellen aus London abziehen. Auch die Schweizer UBS plant Abbau. Für Nicht-EU-Banken wird London besonders unattrakti­v, weil Großbritan­nien mit dem Brexit den „EU-Pass“verliert. Bisher können Banken, die eine Niederlass­ung in London haben, von dort aus den gesamten EUMarkt bedienen. Das entfällt künftig. Die Kosten eines wilden Brexit Die Uhr tickt. Bis zum Frühjahr 2019 müssen die Scheidungs­verträge ratifizier­t sein. Ansonsten droht ein „wilder Brexit“. Das hieße, dass für Großbritan­nien von einem auf den anderen Tag der europäisch­e Binnenmark­t versperrt wäre und für die britischen Unternehme­n die (Zoll-)Regeln des allgemeine­n Welthandel­s gälten. Die Briten müssten dann auf ihre Exporte in die EU jährlich zwölf Milliarden Euro Exportzöll­e zahlen, hat der Deutsche Industrie- und Handelskam­mertag errechnet. Ein Börsencras­h und eine Rezession sind möglich. Völlig offen ist, welche Rechte die EU-Bürger auf der Insel nach einem wilden Brexit haben.

Auch deshalb kann keine Seite ein Interesse daran haben, die Gespräche weiter eskalieren zu lassen. Statt den Europäern zu unterstell­en, sie wollten die Stimmung vor den britischen Parlaments­wahlen anheizen, sollte May lieber in eine Seilschaft mit ihnen zurückkehr­en. Die Brexit-Tour wird noch hart genug – gerade für die Briten.

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FOTO: DPA Die Briten gehen, und Theresa May geht voran.

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