Die Wahl der Qual
Farébersviller in Lothringen ist eine Hochburg von JeanLuc Mélenchon. Jeder Dritte hat hier für den Linksradikalen gestimmt. Nun, vor der Stichwahl, herrscht Ratlosigkeit.
FARÉBERSVILLER Unten das Dorf, oben die Cité. Dort steht ein Hochhaus aus hellem Beton neben dem anderen, nicht schön, aber funktional. Der Auftrag an den Architekten war klar: so viele Menschen wie möglich auf engem Raum unterzubringen. Wer zum ersten Mal nach Farébersviller kommt, sucht die Großstadt. Denn hier sieht es aus wie im Vorort. Nur dass die 6000-EinwohnerGemeinde, sechs Kilometer von der saarländischen Grenze entfernt, auf dem Land liegt.
Gebaut wurden die Hochhäuser in der goldenen Ära des Bergbaus. Damals erlebte Farébersviller einen wahren Boom. In den 60er Jahren verzehnfachte sich die Bevölkerung. Aus Algerien, Marokko und Italien kamen die Menschen, um in den nahen Kohlebergwerken zu arbeiten. Der Bergbau gehört zur Vergangenheit, die Zuwanderer von einst gehören heute zu Frankreich.
In der ehemaligen Arbeitersiedlung sind fast 30 Prozent arbeitslos. An ihrem Wahlverhalten hat sich aber wenig geändert: Farébersviller bleibt links. Beim ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl vor knapp zwei Wochen war der Ort eine Ausnahme unter all den Front-National-Hochburgen nordöstlich von Metz. Der Linksradikale Jean-Luc Mélenchon bekam 36 Prozent. Die rechte Marine Le Pen kam mit 24 Prozent nur auf Platz zwei. Der unabhängige Emmanuel Macron, frankreichweit Sieger, wäre in Farébersviller mit 17 Prozent nicht einmal für die Stichwahl qualifiziert.
Das Aus für den Wunschkandidaten Mélenchon macht viele Wähler ratlos. Wie in der Bäckerei an der Place du Marché. Die Verkäuferin kennt die meisten mit Namen. Auf die Wahl angesprochen, verzieht sie das Gesicht und zuckt mit den Schultern. Eine Kundin kauft noch schnell ein Bauernbrot für den Abend. Die Begeisterung für die Wahl hält sich bei ihr in Grenzen: „Ich habe schon beim ersten Wahlgang nicht gewählt. Mir gefällt keiner der Kandidaten. Außerdem nützt das nichts. Was in Paris stattfindet, hat keinen Einfluss auf unser Leben.“
Ein paar Meter weiter stehen eine junge Frau und zwei Männer vor einer Fahrschule. Die Frau studiert in Metz, fährt viermal die Woche mit dem Zug hin: „Das nervt.“Jetzt nimmt sie Fahrstunden. Sie hat für Mélenchon gestimmt, „weil er Tacheles redet. Er haut auf den Tisch gegen alle Missstände in Frankreich.“Vor allem in der Fernsehdebatte habe er sie mit seinen Angriffen gegen Marine Le Pen überzeugt, die Viertel wie dieses verachte: „Er hat sie fertiggemacht, er verteidigt uns.“Am Sonntag, bei der Stichwahl, wird sie aber wohl zu Hause bleiben. Sie wollte Mélenchon. Wenn nicht er, dann keiner: „Ich werde nicht zwischen einem Banker und einer Faschistin wählen.“
Auch der 28-jährige Hamid Saboun tendiert zum Zuhausebleiben. Auch er hat Mélenchon gewählt, eher aus einer Laune heraus. Der
Saarbrücken
Farébersviller gute Redner hatte ihm mehr imponiert als sein Wahlprogramm. „Wenn wir jetzt für Macron stimmen, um den Front National zu verhindern, wird es das Problem nur um fünf Jahre verschieben, und dann schafft es Le Pen“, meint er.
Hamid ist eher jemand, der anpackt. Mit seinem Kumpel Zackaria Bacha hat er einen Verein gegründet, „Les Banlieus’arts“. Sie organisieren Theaterworkshops, Podiumsdiskussionen, drehen Videos und haben sogar ein eigenes Radio, an dem rund 20 Jugendliche mitarbeiten. Auch Zackaria hat für Mélenchon gestimmt. Er ist kein Fan, Mélenchon war nur der Kandidat, dem er sich am wenigsten fern fühlte. Am Sonntag bekommt Macron seine Stimme. Es ist keine Wahl aus Leidenschaft, sondern aus Vernunft: „Ich will nicht, dass der Front National an die Macht kommt.“Le Pen spalte die Gesellschaft.
Hier in „Far“, wie die Jungen ihre Stadt nennen, mache es schon lange keinen Unterschied mehr, wer welchen Migrationshintergrund hat. Zackaria hat auch einen marokkanischen Pass, doch ihn interessiert vor allem, was in Frankreich passiert. Nach Marokko fahre er ja nur in den Urlaub.
In Farébersviller ist die Moschee mit Minarett so groß wie die Kirche, und niemand stört sich daran. Als es 2005 im Nachbarort Behren-lès-Forbach oder in den Metzer Vororten brannte, blieb hier alles ruhig. Wenn ein Anschlag irgendwo in Frankreich verübt wird, seien die Menschen auch hier schockiert, sagt Zackaria. Dennoch bezichtige dann nicht jeder sofort seinen Nachbarn, ein Terrorist zu sein.
Zu spüren ist immer wieder ein gewisser Frust, der aber nicht in Wut umschlägt. Höchstens in Gleichgültigkeit. Bei der Regionalwahl 2010 erreichte Farébersviller einen traurigen Rekord – mit 79,8 Prozent die höchste Nichtwählerquote Frankreichs. Darüber haben sie sich geärgert, erzählen drei Rentner. Sie stehen vor dem Geschäft „Confection et Bazar“. Vom Reisekoffer bis zum Kopftuch reicht das Sortiment. Einkaufen werden Icham und seine Freunde hier heute nicht; sie warten auf einen Bekannten. „Ich kenne mich nicht gut mit Politik aus, aber ich gehe immer wählen“, sagt der eine und zieht als Beweis seinen Wählerausweis heraus. Die anderen nicken.
Auch sie werden wählen gehen. Keinesfalls Marine Le Pen. „Vor ihr habe ich keine Angst“, sagt der eine trotzig. „Ich komme aus Algerien, bin aber seit 45 Jahren in Farébersviller. Sie wird es nicht schaffen, mich da wegzukriegen.“