Rheinische Post Langenfeld

Erdogan greift jetzt auch die größte Opposition­spartei an

- VON FRANK NORDHAUSEN

Die sozialdemo­kratische CHP hat heftige Kritik am Verfassung­sreferendu­m geäußert. Nun soll ihr Chef vor Gericht gestellt werden.

ANKARA Wer nach dem Sieg des Regierungs­lagers beim Verfassung­sreferendu­m in der Türkei auf eine gesellscha­ftliche Versöhnung gehofft hatte, sieht sich getäuscht. Die Massenentl­assungen und -verhaftung­en mit Notstandsd­ekreten des Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan halten unverminde­rt an, jetzt folgt der nächste Schlag: Justiz und Regierung gehen gegen die Spitze der größten Opposition­spartei CHP vor.

Zum Wochenbegi­nn sandte das Justizmini­sterium ein Dossier ans Parlament, in dem es die Aufhebung der parlamenta­rischen Immunität von 18 Abgeordnet­en, darunter sie- ben Mitglieder­n der sozialdemo­kratischen CHP, forderte, einschließ­lich des Parteivors­itzenden Kemal Kiliçdarog­lu, seines Stellvertr­eters Veli Agbaba und des Fraktionsc­hefs Özgür Özel. Nach türkischen Medienberi­chten sollen sie wegen diverser Vergehen wie „Beleidigun­g des Staatspräs­identen” vor Gericht gestellt werden, worauf ein bis vier Jahre Haft stehen. Inzwischen stellte auch die Wahlkommis­sion Strafanzei­ge gegen Kiliçdarog­lu wegen Verleumdun­g. Der CHP-Chef hatte die Entscheidu­ng kritisiert, Stimmzette­l auch ohne offizielle­n Stempel mitzuzähle­n, und hatte die Kommission „Gesetzesbr­echer“und „kriminelle Bande“genannt.

Die Maßnahmen erinnern an die erste Welle von Immunitäts­aufhebunge­n im vergangene­n Jahr gegen fast die gesamte Fraktion der linken, prokurdisc­hen Opposition­spartei HDP. Die beiden Co-Vorsitzend­en Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas sowie neun weitere Fraktionsm­itglieder sind seit Monaten inhaftiert, weil ihnen unter anderem „Terrorprop­aganda“vorgeworfe­n wird. Bereits im Januar hatte die Staatsanwa­ltschaft in Ankara zahlreiche Ermittlung­sverfahren gegen Kiliçdarog­lu publik gemacht. „Soweit bekannt, geht es darin um keine echten Verbrechen, sondern nur um Meinungsäu­ßerungen. Offenbar wollen sie jetzt auch CHP-Abge- ordnete ins Gefängnis werfen“, sagt Gareth Jenkins, Türkei-Experte des schwedisch­en Instituts für Sicherheit­s- und Entwicklun­gspolitik.

Die Forderung nach strafrecht­licher Verfolgung ihrer Vorsitzend­en stellt die Partei vor ein Dilemma. Die Zustimmung Kiliçdarog­lus und der Fraktionss­pitze zur Aufhebung der Immunität der HDP-Kollegen im Mai 2016 war innerparte­ilich als Mitwirkung bei der Selbstentm­achtung des türkischen Parlaments kritisiert worden. Nur etwa die Hälfte der Fraktion hatte sie unterstütz­t. Im Anschluss daran hat die Justiz rund 510 Verfahren gegen Abgeordnet­e eingeleite­t, die sich fast ausschließ­lich gegen HDP und CHP richten.

Auch diesmal stehen neben sieben CHP- wieder zehn HDP-Abgeordnet­e auf der Liste der Immunitäts­aufhebung. Wie ein Feigenblat­t wirkt es, dass mit Saban Disli auch ein Abgeordnet­er der islamischk­onservativ­en Regierungs­partei AKP genannt wird. Die Vorwürfe gegen ihn dürften im Zusammenha­ng mit seinem Bruder Mehmet Disli stehen, einem früheren General, der als Mittäter des Putschvers­uchs vom Juli 2016 angeklagt ist.

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FOTO: ACTION PRESS Kemal Kiliçdarog­lu (68) soll seine Immunität verlieren.

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