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gerin Anna Calvi. Und die hat ihm wunderbar basswuchtige DüsterSongs komponiert, Hymnen des Horrors. Die werden von einer Band vor der Bühne in den Raum geschoben, roh, brutal, rumorend. Dann wieder wundersam harmonisch, schabernäckisch, verspielt. Plötzlich wird gesteppt oder Oper parodiert – harmlose Späße, die natürlich als Kontrastmittel dienen für das große Grauen.
Wilson hat es auf die Komik des Schauerlichen abgesehen, treibt seine Szenen immer wieder in diesen seltsamen Kippmoment, da Furcht in Lachen umschlägt, Irrwitz sich gackernd Bahn bricht. Darin folgt er der Vorlage von E. T. A. Hoffmann, der in seiner Erzählung Einblicke in die seelischen Abgründe seiner Figuren wagt, dabei aber jenen satirischen Ton der Romantik anschlägt. Wilson karrikiert diese Ironie, zieht die Regler weiter auf, lässt die Figuren erschrecken wie Komikfiguren oder jagt sie als Sil- houetten eines Scherenschnitttheaters über die Bühne. Erprobte Mittel, Wilson bleibt Wilson. In Klamauk gleitet sein asiatisch inspiriertes Theater aber nie. Auch, weil die Darsteller aus dem Düsseldorfer Ensemble allesamt nicht nur großartig singen, sondern sich aus dem engen Korsett, das Wilson seinen Figuren anlegt, hinausspielen. Bei aller Groteske und edlen Reduziertheit bewahren sie sich einen Rest Menschlichkeit. Vor allem Christian Friedel in der Rolle des Nathanael ist vom ersten Song an ein echter Rockoper-Star mit erstaunlichem Stimmumfang und zugleich dieser wandelbare Schauspieler, der trotz starrer Maske ein trotziges Kind genauso lebendig spielt wie den manisch verliebten Studenten und den wahnsinnigen Bräutigam.
Eigentlich erzählt Wilson ja die Geschichte einer Traumatisierung. Nathanael wird mit so viel Angstmacherei erzogen, dass er den Tod des Vaters nicht verwinden kann und der Wirklichkeit nicht mehr traut. Als Student verliebt er sich lieber aus der Distanz in die mechanische Puppe Olympia. Die stellt Wilson höchst konventionell mit Schraube im Rücken auf die Bühne, schwenkt dazu aber einen Hightech-Roboterarm als Zeichen der technologischen Moderne. Ansonsten stammen seine Bilder ungebrochen aus dem zeitlosen Wilson-Kosmos. Sie sind schön anzusehen in ihrer Wohlkomponiertheit und kontrastreichen Ausdruckskraft. Fast zu schön. Doch da bleibt immer dieses beunruhigende Moment, weil die Figuren so seelenlos und ohnmächtig wirken, weil sie Spielmasse sind auf dem Schachbrett des Lebens.
Dass es in dieser Inszenierung ums Angstmachen geht, um Herrschaft durch psychische Gewalt, und dass es dazu genug Bezüge in die Wirklichkeit gibt, muss der Zuschauer selbst aus den Bildern lesen. Oder den Strippenzieher Wilson einfach machen lassen. Seine Bilder bleiben ohnehin im Kopf und werden ihre Wirkung entfalten. So ist seine Inszenierung zwar pure Kulinarik, optischer Genuss, musikalischer Ansturm, harmlos aber ist sie in keinem Moment.
Zwar gab es bei der Premiere in Recklinghausen noch einige technische Probleme, was bei Wilson gefährlich ist, denn seine Inszenierungen müssen präzise laufen wie ein Schweizer Uhrwerk, damit die totale Illusion nicht gestört wird, die artifizielle Wilsonblase nicht platzt. Doch das war wohl dem Spielort geschuldet. Das Publikum in Düsseldorf darf sich auf ein Spektakel freuen, das seine Zuschauer für mehr als zwei Stunden aus der Gegenwart entführt – hinein in eine hermetische, erhabene Welt, in der Fantasien blühen, Mobiliar auf die Bühne gleitet, Alchemisten ihr Feuer entfachen und Kinder keinen Schlaf finden. Denn, wer weiß, wer weiß, womöglich ist der Sandmann längst gekommen.