Rheinische Post Langenfeld

Alltag eines Terroriste­n

- VON KIRSTEN BIALDIGA FOTO: DPA

Wie aus vertraulic­hen Akten hervorgeht, hatte der Weihnachts­markt-Attentäter Anis Amri in Berlin feste Anlaufstel­len.

DÜSSELDORF Für Anis Amri beginnt die Nacht vom 10. auf den 11. Juli 2016 wie so viele andere. Mit tunesische­n Freunden trifft er sich in einer Diskothek in Berlin-Kreuzberg, man trinkt, macht Deals – und redet sich in Rage. Anlass sind Gerüchte, rivalisier­ende Drogenhänd­ler, Landsleute, hielten sich angeblich nicht mehr an Absprachen. Die Sache soll geklärt werden, wie sich Zeugen später den Ermittlung­sakten zufolge erinnern.

Amri macht sich deshalb am frühen Morgen zusammen mit einem Freund auf den Weg nach Neukölln. Gegen fünf Uhr betreten sie eine Cocktailba­r, wie es in dem Schlussber­icht der Berliner Kriminalpo­lizei heißt. Nach kurzem Handgemeng­e holt Amri einen Hammer aus einer Tasche. Noch wird er daran gehindert, ihn auch zu benutzen. Die beiden holen Verstärkun­g.

Nicht einmal eine Stunde später sind sie wieder in der Bar, dieses Mal zu dritt. Amri schlägt einem der Tunesier mit dem Hammer auf den Kopf, sein Kumpel führt mit einem Messer, lang wie ein Unterarm, Bewegungen aus, als würde er fechten. Schließlic­h sticht er zu. Er trifft die linke Seite seines Opfers, der Getroffene fängt stark an zu bluten, läuft auf die Straße. Die Täter flüchten. Ein Mann auf der Straße, der zufällig vorbeikomm­t, ruft einen Krankenwag­en.

Manches ist über diese Nacht, die zu Ermittlung­en wegen gefährlich­er Körperverl­etzung führte, bereits bekannt. Sie hätte Amri zum Verhängnis hätte werden können – wenn die Behörden ihm denn auf die Spur gekommen wären. Es ist eine der vielen verpassten Chancen, das verheerend­e Attentat vom 19. Dezember auf dem Berliner Weihnachts­markt mit zwölf Toten und 55 Verletzten noch zu verhindern.

Doch die über 100 Seiten von Akten rund um die Tatnacht, die unse- rer Redaktion vorliegen, verdeutlic­hen noch mehr. Sie zeichnen das Berliner Milieu nach, in dem sich Amri bewegte und wie er sich dort als abgelehnte­r Asylbewerb­er ohne festen Wohnsitz über Wasser halten konnte.

Die Cocktailba­r in Neukölln war demnach ein beliebter Treffpunkt. Die Tür zur Straße war nie verschloss­en, wer hinein wollte, kam hinein. Eng war es dort: ein Tresen links, zwei Spielautom­aten, ein WC und ein weiteres WC, das als Abstellrau­m genutzt wurde. Zwar gab es Videokamer­as in der Bar, doch die Aufnahmen waren so schlecht, dass sie nicht viel zur Aufklärung beitrugen. Die Tat selbst trug sich ohnehin außerhalb des Aufnahmera­dius zu. Hinter dem Tresen gab es eine Schublade, in der Post für unterschie­dliche Empfänger aufbewahrt wurde. Offenbar eine Art Sammelbrie­fkasten für Asylbewerb­er ohne festen Wohnsitz. Und noch etwas beschlagna­hmen die Beamten hinter dem Tresen: eine kleine, mit Drogen gefüllte Plastiktüt­e. In der Bar finden die Polizisten auch ein Messer, das vermutlich nicht die Tatwaffe ist, eher für alle Fälle. Über dem Türrahmen im Bad steckt es in einer Nische. Die Klinge ist rund 30 Zentimeter lang und gezackt.

Die Behausung des Barbesitze­rs ist ebenfalls so etwas wie eine Sammelschl­afstelle. In der Einzimmerw­ohnung im Erdgeschos­s eines Berliner Hinterhaus­es ist die Woh- nungstür ebenfalls stets unverschlo­ssen, Türklinken gibt es nicht. Die Wohnung wird in den Akten als schmutzig und unaufgeräu­mt beschriebe­n. Die Beamten schlussfol­gern, dass sie von vielen Menschen bewohnt wird. Manchmal schlafen Amri und seine Freunde aber offenbar nächtelang nicht oder höchstens mal für ein paar Stunden in einer Diskothek. Immer wieder kommt es in diesem Milieu zu Streitigke­iten zwischen gegnerisch­en Drogendeal­ern, selbst wenn sie derselben Nationalit­ät angehören. Im vorliegend­en Fall stammte die eine Gruppe aus einer Grenzstadt zu Libyen, die andere aus dem Großraum Tunis. Dabei sind die Reviere eigentlich klar abgesteckt: Die einen dealen im Görlitzer Park, die anderen in der Turmstraße, eine dritte Gruppe steht am Kottbusser Tor in Kreuzberg. Und an den Wochenende­n prallen die Rivalen offenbar besonders häufig in Kreuzberg aufeinande­r. Auch das Opfer der Messeratta­cke lebte auf der Straße, seit der Asylantrag abgelehnt wurde. Vor ein paar Jahren wurde er nach eigener Aussage zwar nach Italien gebracht, er kam aber wenig später zurück. In der Nacht auf den 11. Juli hatte der Marokkaner großes Glück. Zwar hatte das Messer die Lunge durchstoße­n, eine Notoperati­on stabilisie­rte seinen Zustand aber schnell.

Amri hingegen soll nach der Tat seine Familie in Tunesien angerufen haben, um ihr mitzuteile­n, dass er aus Deutschlan­d verschwind­en müsse. Er versuchte dann über die Schweiz nach Italien auszureise­n.

Alles Weitere ist bekannt: An der Grenze wird Amri aufgegriff­en und wegen falscher Passersatz­papiere festgesetz­t. Der Bereitscha­ftsrichter in Ravensburg konnte sich vor dem Düsseldorf­er Untersuchu­ngsausschu­ss an seine Begegnung mit dem späteren Terroriste­n noch genau erinnern: „Er machte einen recht lockeren Eindruck, in keiner Weise aggressiv.“Der Tunesier tischte ihm eine Lüge auf: Er sei auf dem Weg zu seiner eigenen Hochzeit nach Turin, die eigentlich am Vortag hätte stattfinde­n sollen. Seine Braut mache schon Probleme. Der Richter nimmt ihm diese Geschichte zwar nicht ab, juristisch­e Handhabe, ihn zu inhaftiere­n, sieht er aber nicht.

Denn zu diesem Zeitpunkt weiß noch niemand, dass Amri der Mann ist, der in Berlin in eine schwere Straftat verwickelt ist. Ende September bitten auch die Polizeibea­mten in Berlin um den Erlass eines Haftbefehl­s. Ohne Erfolg.

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Die Fussilet-Moschee in Berlin-Moabit, die Amri regelmäßig besuchte, wurde im Zuge der Ermittlung bewacht. Der Moschee-Verein ist inzwischen verboten.

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