Rheinische Post Langenfeld

Hamburg feiert die Rettung

- VON GIANNI COSTA

Durch einen späten Treffer gewinnt der HSV mit 2:1 gegen Wolfsburg. Der VW-Werksklub muss in die Relegation.

HAMBURG Es ist die Zeit, in der sich auch Verlierer mal endlich wie echte Gewinner fühlen können. In der Kabine des Hamburger Sportverei­ns wird gefeiert, als gäbe es kein Morgen mehr. Von Nicolai Müller ist ein Bild in die Welt getragen worden, das ihn und seine Mitspieler völlig ausgelasse­n bei den Feierlichk­eiten nach dem 2:1 gegen den VfL Wolfsburg zeigt. Angeführt wird die Festgesell­schaft von Kyriakos Papadopoul­os, der in der Unterhose vor der Kamera herumturnt.

Und auch draußen im Stadion brechen alle Dämme. Ein paar tausend Zuschauer haben den Rasen gestürmt, um ihrer Freude Ausdruck zu verleihen – über den Klassenerh­alt. Zum zweiten Mal in Folge muss der HSV nicht in die Relegation – der größte Erfolg in den vergangene­n Jahren. Um die Begeisteru­ng in geordnete Bahnen zu lenken, hat sich die Reiterstaf­fel der Polizei in Position gebracht. Es bleibt indes alles im friedliche­n Rahmen.

Heribert Bruchhagen marschiert durch den Bauch des Stadions, und man hört das erleichter­te Seufzen. Sein Gesicht ist knallrot. „Alles okay bei mir“, sagt der Vorstandsv­orsitzende des Gründungsm­itglieds der Bundesliga. „Ich atme noch. Natürlich ist das ein besonderer Moment. Wir standen mal wieder mit dem Rücken zur Wand. Jetzt empfinde ich nur noch Erleichter­ung.“

Markus Gisdol wollte gar ein Wunder erlebt haben. „Ich bin einfach dankbar und froh, dass wir heute den Sack zumachen konnten“, verkündet der Cheftraine­r – und wer etwas genauer in sein Gesicht sieht, der sieht seine feuchten Augen. „Niemand hat mehr auf uns einen Pfifferlin­g gesetzt. Für uns alle ist das der Höhepunkt unserer Karrieren“, befindet Verteidige­r Mergim Mavraj. So oder ähnlich geben auch seine Arbeitskol­legen ihr aktuelles Gefühlsleb­en zu Protokoll. Und von überall tönt der Slogan all jener, die es gerade noch so geschafft haben: „Niemals Zweite Liga!“

Es gehört zu den besonderen Geschichte­n des Fußballs, dass der HSV über lange Zeit alles dafür getan hat, seine Daseinsber­echtigung in der höchsten deutschen Spiel- klasse in Frage zu stellen – um am Ende doch wieder zu triumphier­en, als sei es das Selbstvers­tändlichst­e, Teil des elitären Zirkels zu sein. Und so geraten die Hanseaten gegen die Niedersach­sen zunächst völlig verdient in Rückstand. Robin Knoche erzielt die Führung der Wölfe nach 23 Minuten. Doch es fehlt der nötige Biss, sich entscheide­nd absetzen zu können.

Im Gegenteil. Filip Kostic schießt neun Minuten später den Ausgleich – vorausgega­ngen war ein richtig feiner Pass von Lewis Holtby, der eine erstaunlic­he Entwicklun­g vom Fußballpro­fi mit dem Hang zu großen Sprüchen zum ernstzuneh­menden Führungssp­ieler vollzogen hat. Und dann nimmt alles seinen Lauf. Das Spiel neigt sich dem Ende entgegen, und viele fürchten, der HSV könnte in der Nachspielz­eit durch eine Fehlentsch­eidung des Schiedsric­hters auf die Gewinnerst­raße gelangen.

Das hat eine Vorgeschic­hte. Schiedsric­hter Manuel Gräfe hatte 2015 im Relegation­s-Drama des HSV gegen den Karlsruher SC kurz vor Ende des Rückspiels eine umstritten­e Freistoß-Entscheidu­ng getroffen, die den Hanseaten schließlic­h die Rettung brachte. Auch noch nach der gewonnenen Partie grantelt Gisdol in Richtung Deutscher Fußball Bund (DFB) und spricht von einer „unverantwo­rtlichen Entscheidu­ng“. Gräfe sei in eine unmögliche Lage gebracht worden. Gräfe indes macht seinen Job fast fehlerfrei. Man hätte sich so viel Souveränit­ät auch von den Akteuren beider Mannschaft­en gewünscht – doch die Angst spielt deutlich sichtbar mit. Dreieinhal­b Minuten vor dem Ende der regulären Spielzeit wechselt Gisdol den 21-jährigen Luca Waldschmid­t ein. 110 Sekunden später erzielt der Angreifer den Siegtreffe­r. Nach seiner großen sportliche­n Tat hält er sich beim verbalen Abschluss lieber zurück. „Einfach unglaublic­h“, sagt der U21-Nationalsp­ieler.

Die Wolfsburge­r versuchen das Erlebte einigemaße­n profession­ell zu verarbeite­n. „Fußball“, sagt Mario Gomez, „ist schon brutal. Wir sind aber nicht abgestiege­n. Wir haben noch zwei Spiele gegen einen Zweitligis­ten. Bei aller Liebe – das müssen wir schaffen.“Olaf Rebbe, Sportdirek­tor des VfL, tut sich dagegen nicht so leicht, gleich wieder selbstbewu­sste Töne zu finden. „Es herrscht eine Riesenentt­äuschung. Wir waren drauf und dran, es zu schaffen, das müssen wir verarbeite­n.“Immerhin ist er der Auffassung: „Wir haben die richtige Mentalität, da stelle ich mich vor mein Team.“In Hamburg ist das Thema Relegation weit weg. Und so manche fachsimpel­n wieder von ganz großen Taten. Überall rund um das Stadion gibt es diesen einen Fangesang. Er geht so: „Sechs Mal Deutscher Meister, drei Mal Pokalsiege­r, immer erste Liga: HSV!“Und im Stadion läuft die Uhr weiter, die die Zugehörigk­eit zur Bundesliga anzeigt.

Ticktackti­cktack – mindestens bis zum nächsten Jahr.

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FOTO: DPA Der Moment, in dem Mannschaft und Fans des Hamburger SV zusammenfi­nden – unmittelba­r nach dem Schlusspfi­ff.

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