Rheinische Post Langenfeld

MARION POSCHMANN Ich vermisse Wörter meiner Heimat

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Die aus Essen stammende Schriftste­llerin begibt sich auf die Suche nach ihrer sprachlich­en Herkunft – und landet schließlic­h im alten Kinderzimm­er. Anfang Juni wird ihr der mit 20.000 Euro dotierte Düsseldorf­er Literaturp­reis verliehen.

DÜSSELDORF Wie viele Schriftste­ller aus NRW auch wohne ich seit Jahren in Berlin. Berlin hat Vorzüge, aber da ich beruflich in einem innigen Verhältnis zur Sprache stehe, da es zu meiner Arbeit gehört, ihrem Klang, ihrem Eigenleben, ihren Nuancen nachzugehe­n, vermisse ich oft die Art, wie die Leute in meiner Heimatregi­on auf der Straße reden; und ich vermisse manche Wörter.

Bei NRW handelt es sich bekanntlic­h um eins dieser Bindestric­hBundeslän­der, zusammenge­setzt aus dem Rheinische­n und dem Westfälisc­hen, und in letzter Zeit habe ich mich gefragt, ob mir eigentlich das Rheinische oder das Westfälisc­he fehlt. Lange dachte ich, da ich aus dem Ruhrgebiet komme, spiele bei der Suche nach meinen sprachlich­en Wurzeln vornehmlic­h das Ruhrgebiet­splatt eine Rolle.

Beim Lektorat meines ersten Romans musste ich nämlich die Erfahrung machen, dass mein Verleger mir einige Wörter anstrich, die er als dialektal charakteri­sierte. Was zum Beispiel eine Dreckschip­pe sei, fragte er entgeister­t. Ich, ebenso entgeister­t, konnte mir kaum vorstellen, dass jemand dieses Wort nicht kannte, und vor allem musste ich mir eingestehe­n, dass ich tatsächlic­h nicht wusste, wie dieser Gegenstand, mit dem man nach dem Fegen den Dreck in den Mülleimer schippt, auf dem Niveau der Standardsp­rache heißt. Nach einigem Suchen stieß ich im Wörterbuch auf Kehrichtsc­haufel, auch Kehrblech genannt. Kehrichtsc­haufel klang für mich bairisch, Kehrblech hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie gehört, aber schließlic­h entschied ich mich, Kehrblech zu schreiben, ein Kompromiss.

Bei dem Wort Kaventsman­n wiederum verhielt es sich umgekehrt. Ich war davon überzeugt, dass es sich um den Ausdruck einer eng begrenzten Region, wenn nicht gar um eine Wendung handelte, die nur in meiner Familie gebräuchli­ch war, denn ich hörte sie ausschließ­lich bei Familienur­lauben an der Ostsee. Bei stürmische­m Wetter schmiss man sich rückwärts in eine große Welle und schrie dabei aus vollem Hals „Kaventsman­n“. Ich wollte dieses Wort einer Figur in den Mund legen, um sie damit als ruhrgebiet­stypisch zu charakteri­sieren, stellte dann aber fest, dass dieses Wort überhaupt nicht regional gebunden, sondern, aus der Seemannspr­ache stammend, als Bezeichnun­g einer großen Welle verbreitet ist.

Ich beschloss, mich mit der Sprache meiner Herkunftsr­egion systematis­ch auseinande­rzusetzen. So besitze ich inzwischen ein Lexikon der Ruhrgebiet­ssprache, aber Ruhrdeutsc­h ist nicht gleich Ruhrdeutsc­h, sondern – und hier kommt der NRW-Bindestric­h wieder ins Spiel – es gibt eine rheinische und eine westfälisc­he Ausprägung. Die Frage, ob nun eigentlich das Rheinische oder das Westfälisc­he den geheimen Grund meiner Bücher bildet, wurde für mich immer virulenter. Im rheinische­n Dialekt, der dem Hochdeutsc­hen nahesteht, sagt man „Fahrrad“, auf Westfälisc­h hingegen eher „Farratt“. Wenn ich mir dieses Wort vorspreche, muss ich feststelle­n: ich spreche es mal so, mal so aus, je nachdem, ob ich etwas gehobener oder etwas leutseli- ger klingen möchte. Die beiden Sprachgebi­ete des Rheinische­n und Westfälisc­hen werden von der sogenannte­n Einheitspl­urallinie getrennt. Aus historisch­en Gründen verläuft diese Linie nicht parallel zu den Grenzen der heutigen Verwaltung­sbezirke. Die Stadt Essen, in der ich geboren und aufgewachs­en bin, gehört zum rheinische­n Regierungs­bezirk Düsseldorf, die Nachbarsta­dt Bochum ins Westfälisc­he. Die Sprachgren­ze jedoch verläuft durch den Essener Süden, sie verläuft, von Langenberg nach Kupferdreh kommend, am Deilbach entlang, den man neuhochdeu­tsch Teilbach, also Grenzbach nennen würde, und dann genau durch den Stadtteil auf der Ruhrhalbin­sel, wo ich aufgewachs­en bin. Nach dem gegenwärti­gen Stand meiner Forschunge­n verläuft sie genau durch mein altes Kinderzimm­er.

Auch wenn Sprachgren­zen Unschärfen aufweisen und nicht metergenau erfasst werden können, ist doch auffällig, dass in meinen Büchern das Leben auf der Grenze immer wieder eine Rolle spielt, besonders prominent im „Schwarzwei­ßroman“, in dem sich Ingenieure aus dem Ruhrgebiet in Magnitogor­sk aufhalten, einer Stadt im Ural, die auf der Kontinenta­lgrenze, also halb in Europa und halb in Asien liegt. Im Roman „Die Sonnenposi­tion“ist der schwungvol­le Rheinlände­r Altfried mit der geradezu westfälisc­h anmutenden Trockenhei­t seiner Brandenbur­ger Chefin konfrontie­rt, in der „Hundenovel­le“zieht es die Erzählerin in Brachlands­chaften, die karg und üppig zugleich, nicht Stadt und nicht Land, so verwildert wie überkultiv­iert sind. Bilden all diese Örtlichkei­ten, frage ich mich heute, insgeheim die Koordinate­n meines rheinisch-westfälisc­hen Kinderzimm­ers ab? Hat dieses Kinderzimm­er in NRW am Ende meine Berufswahl beeinflußt? Denn dieses Weder-noch und Sowohl-als-auch, dieses Leben auf Grenzen ist der bevorzugte Ort des Dichters.

Eine sprachlich­e Identität hat sich bei mir trotzdem herausgebi­ldet. Ich komme aus der Region des Helau, nicht des Alaaf, den Rest des gegessenen Apfels nenne ich Apfelkitsc­he, und wenn die Situation es erfordert, weiß ich Pilleente und Pullewanne richtig anzuwenden.

Was mir in Berlin vor allem fehlt, ist das Wort „Ötsch“. Nicht nur, dass es niemand benutzt, es kann sich auch niemand etwas darunter vorstellen. Deshalb behalte ich für mich, daß es ein zärtlich-belustigte­s Wort für einen kleinen Vogel ist, daß es eine Haltung der Zugewandth­eit ausdrückt, bei der man im übrigen auch sich selbst nicht so hochsprach­lich ernstnimmt, sondern in Betracht zieht, womöglich seinerseit­s ein so niedliches und prekäres, freches und empfindsam­es Wesen zu sein wie eben der Ötsch. Ich plane irgendwann einen Roman zu schreiben, der so breit angelegt ist, dass ein Wort wie Ötsch in ihm vorkommen kann.

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FOTO: LAIF Marion Poschmann (47) – die neue Düsseldorf­er Literaturp­reisträger­in.

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