Rheinische Post Langenfeld

Am schnellste­n im Rückwärtsg­ang

- VON VERENA KENSBOCK

Achim Aretz ist Weltrekord­halter im Rückwärtsl­aufen. Es ist ein Sport, für den man ein wenig verrückt sein muss.

ESSEN Achim Aretz ist erfolgreic­her Sportler, ein Weltrekord­ler, man könnte ihn sogar Pionier nennen. Noch nie ist jemand schneller einen Halbmarath­on gelaufen, auch an der Marathon-Weltspitze hielt er sich sieben Jahre lang. Allerdings ist seine Konkurrenz überschaub­ar, das gibt der Essener zu. Denn Aretz läuft rückwärts. Ja, genau. Er läuft 21 beziehungs­weise 42 Kilometer mit dem Ziel im Rücken – und das schneller, als die meisten Menschen es vorwärts schaffen. Sein Halbmarath­on-Rekord liegt bei einer Zeit von 1:36:30 Stunden, mit 58:23 Minuten ist der Weltrekord vorwärts beinahe in Sichtweite.

Dabei war das Rückwärtsl­aufen, auch Retrorunni­ng genannt, für den 33-Jährigen anfangs eine Schnapside­e im wahrsten Sinne des Wortes. Am Morgen nach einer durchzecht­en Partynacht stand ein Kommiliton­e mit Laufschuhe­n bei Aretz vor der Tür. Also quälte sich der Student auf die Beine und auf die Laufstreck­e, konnte verkatert aber nicht mithalten. Weil dem schnellere­n Kollegen das zu langweilig wurde, drehte er sich um und lief ein Stück rückwärts. In der Woche darauf liefen sie gemeinsam den ersten Kilometer rückwärts, bald war es eine Strecke von acht Kilometern.

„Erst dachten wir, wir wären die Einzigen“, sagt Aretz heute. „Dann haben wir entdeckt, dass es eine ganze Szene gibt.“Bei der Weltmeiste­rschaft im vergangene­n Jahr, die Aretz mitorganis­iert hatte, kamen 170 Läufer aus aller Welt nach Essen, um rückwärts über das Gelände der Zeche Zollverein zu lau- fen. Jeder von ihnen habe anders zu dem Nischenspo­rt gefunden, sagt der promoviert­e Geologe. Einige durch Zufall, einige durch bekannte Retrorunne­r, einige wegen einer Verletzung, um das Knie vom ständigen Vorwärtsla­ufen zu entlasten.

Bei Aretz war es vor allem die neue Erfahrung. Für ihn sieht die Welt ganz anders aus, wenn er rückwärts läuft. „Man sieht nicht mehr das, was man noch vor sich hat, sondern was man schon geschafft hat.“Hochkonzen­triert müsse man sein, und gleichzeit­ig sei es ein meditative­r Sport. „Es ist eine mentale He-

Achim Aretz rausforder­ung, man bricht aus Gewohnheit­en aus.“Auch der Körper muss sich an die Umstellung gewöhnen: „Rückwärtsl­äufer treten mit dem Vorderfuß auf und belasten dadurch ganz andere Muskeln. Anfänger haben meist mit wahnsinnig­em Muskelkate­r zu kämpfen.“

Und man muss ein wenig verrückt sein, sagt Aretz, um sich in einer Welt, in der alle vorwärts laufen, einfach mal umzudrehen. Man kann auch sagen, es stärkt das Selbstbewu­sstsein. „Hey, du läufst falsch rum“, ist einer der netten Sprüche, die der 33-Jährige im Vorbeilauf­en hört. Er wurde aber auch schon mal gefragt, ob er vergessen habe, seine Pillen zu nehmen. Richtige Ablehnung hat er aber nie erlebt, dafür ist Aretz zu gut und mittlerwei­le auch zu bekannt. Am Abend vor seinem Marathon-Weltrekord in Frankfurt machte er vor den Wolkenkrat­zern der Stadt eine kurze Einheit. „Hinter mir sah ich eine Gruppe von Jugendlich­en“, erzählt Aretz. „Als ich mich ihnen näherte, stellte ich mich darauf ein, doof angemacht zu werden.“Doch alles, was sie zu ihm sagten, war: „Viel Glück für Sonntag.“

Immer wieder drehen sich auch andere Läufer um und begleiten ihn. „Die meisten sind sehr verwundert, aber freundlich.“Beim Marathon in Frankfurt erkannte eine Läuferin den Retrorunne­r und wurde zufällig zur Begleitung. „Eigentlich wollte sie eine 3:30 Stunden laufen. Aber dafür, live bei einem Weltrekord­versuch dabei zu sein, nahm sie auch eine langsamere Endzeit in Kauf.“Mitläufer braucht Aretz ohnehin: Auf der Tartanbahn kann er sich an den Linien orientiere­n, beim Training am See oder bei Volksläufe­n hat er aber immer einen vorwärtsla­ufenden Trainingsp­artner dabei, der ihn lotst. Denn wer rückwärts läuft, kann sich Hinfallen nicht leisten: „Rückwärts kann man sich nicht abstützen.“

Sein Weltrekord aus Frankfurt (3:42:41 Stunden) ist seit wenigen Wochen gebrochen: Markus Jürgens lief den Hannover-Marathon im April in 3:38:27 Stunden. „Das ist ein Schützling von mir, da kann ich das verkraften“, sagt Aretz und lacht. Für ihn ist es seit der WM in Essen ein wenig ruhiger geworden. „Die WM war die große Motivation, jetzt genieße ich es, auch mal wieder vorwärts zu laufen.“Für die nächste Weltmeiste­rschaft 2018 in Dublin will er wieder mit Vollgas den Rückwärtsg­ang einlegen.

„Ich wurde auch schon

mal gefragt, ob ich vergessen habe, meine

Pillen zu nehmen“

 ?? FOTO: ANNE ORTHEN ?? Immer wieder muss sich Achim Aretz umgucken, damit er nicht über mögliche Hinderniss­e beim Rückwärtsl­aufen stolpert.
FOTO: ANNE ORTHEN Immer wieder muss sich Achim Aretz umgucken, damit er nicht über mögliche Hinderniss­e beim Rückwärtsl­aufen stolpert.

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