Rheinische Post Langenfeld

So alt und so modern

- VON OLIVER WIEGAND

Rekordverd­ächtig aus dem Kreis Mettmann (1): Im Neandertal lebten schon vor 42.000 Jahren Menschen.

METTMANN Es braucht viel Vorstellun­gskraft, um sich das Leben der Menschen vor mehr als 40.000 Jahren vorzustell­en. Haben sie überhaupt miteinande­r geredet? Oder nur grunzende Laute von sich gegeben? Was haben sie gegessen? Wo haben sie geschlafen? Haben sie Musik gemacht? Vor was hatten sie Angst? Haben sie über Witze gelacht? Wie alt wurden sie? Viele Fragen, mit denen sich mittlerwei­le Generation­en von Forschern beschäftig­t haben.

Ein Ursprung der Forschung liegt im Neandertal. Mitte August 1856 entdeckten zwei aus Italien stammende Steinbruch­arbeiter in einem Abschnitt des Neandertal­s 16 Knochenfra­gmente. Darunter der mittlerwei­le weltberühm­te Teil eines Schädels, den man später dem sogenannte­n Neandertal­er zuordnen konnte. Das Skelett soll etwa 60 Zentimeter tief im Höhlenlehm, mit dem Kopf zum Höhleneing­ang, gestreckt auf dem Rücken gelegen haben. Heute schätzt man das Alter der im Neandertal gefundenen Knochen auf etwa 42.000 Jahre. Zu dieser Zeit war das Neandertal eine enge Felsschluc­ht. Forscher schätzen, dass sich die Düssel etwa 50 Meter tief und auf einer Länge von 800 Metern ihren Weg durch den Kalkstein gefressen hatte.

Nur drei Jahre nach den Knochenfun­den brachte Charles Darwin ein Buch auf den Markt, über das heute noch gesprochen wird: „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“. Die Fossilien aus dem Neandertal galten bald als Beweis, dass auch der Mensch Vorgänger aus der Urzeit hat. Heute unvorstell­bar, aber die genaue Lage der später durch den hemmungslo­sen Kalkabbau zerstörten Höhle, in der die Knochen gefunden wurden, geriet in Vergessenh­eit. Bis 1997. Vor 20 Jahren gelang es den Archäologe­n Ralf-W. Schmitz und Jürgen Thissen, die Fundstelle der Skelettres­te zu finden.

In einer planierten Fläche am Fuß des Steinbruch­geländes fanden sie unter vier Metern Kalkschutt genau die Schichten des Lehms wieder, der einst die Höhlen in den Kalkwänden gefüllt hatte. Große Überraschu­ng: Sie enthielten nach fast 140 Jahren noch Steinwerkz­euge und Tierknoche­n sowie noch fehlende Knochenfra­gmente, die exakt zu dem 1856 gefundenen Skelett passten. Tierknoche­n spielen eine wichtige Rolle im Leben des Neandertal­ers. Beeren und Früchte hat er nur sel- ten gegessen, seine Hauptnahru­ng bestand zu 90 Prozent aus Fleisch. Die Jagd auf Mammuts und Bisons galt als gefährlich. Forscher schätzen, dass der Neandertal­er bis zu 5000 Kalorien am Tag verbraucht hat, um in einer Umwelt zu überleben, in denen die meisten von uns heute keine zwei Tage durchalten würden. Und so dumm, wie früher oft angenommen, war der Neandertal­er bei weitem nicht. Vergleiche von Zungenbein­en haben ergeben, dass er durchaus in der Lage war zu sprechen. In der Sippe gab es Medizinmän­ner, die bei Krankheite­n helfen konnten. Aus Blättern lernten sie, wie man eine Art Aspirin gewinnt. Und: Die Neandertal­er waren die ersten Menschen, von denen wir wissen, dass sie sich mit dem Tod konfrontie­rten und ihre Toten bestattet haben. Kunst an den Höhlenwänd­en zeugt davon, dass es auch schon vor Zehntausen­den von Jahren Menschen gab, die sich mit der Sprache der Bilder auseinande­rgesetzt haben.

Mittlerwei­le weiß man, der Neandertal­er ist bei weitem nicht der älteste Mensch der Welt. Die sogenannte Homo-Linie begann vor rund 2,5 Millionen Jahren mit Homo habilis. Es ist nachgewies­en, dass er aus Geröllen Steinwerkz­euge herstellte. Und schon beim Homo erectus, dessen älteste Überreste zwei Millionen Jahre alt sind, waren die menschlich­en Merkmale klar erkennbar. Er hatte ein weit entwickelt­es Gehirn, er war auf zwei Beinen gut zu Fuß und hatte deutlich an Körpergröß­e zugelegt. Kleiner wurde sein Gebiss, und an seinem Körper lichtete sich die Behaarung. Der Homo erectus wanderte von Afrika nach Asien und Europa aus. Aus ihm entwickelt­e sich Homo heidelberg­ensis und aus diesem der Neandertal­er.

Als vor mehr als 100.000 Jahren der moderne Mensch, der Homo Sapiens, aus Afrika in Richtung Europa wanderte, traf er auch auf den Neandertal­er. Die Vermischun­g zwischen Neandertal­er und Homo sapiens hat bis heute Spuren hinterlass­en. Demnach tragen Menschen mit Wurzeln außerhalb Afrikas (so wie wir Europäer) noch immer zwischen einem und vier Prozent Neandertal­er-DNA in sich. Das Museum in Mettmann hat einer ihrer lebensecht­en Figuren deshalb den Titel „Mister 4 Prozent“gegeben. Der Neandertal­er in einen Anzug gekleidet würde heute gar nicht groß auffallen.

Heute glauben wir an die modernen Theorien zur Entstehung der Welt durch Urknall und die darauf folgende Evolution. Winzige Spuren davon sind in unserer Nähe sichtbar geworden. Der Neandertal­er hat darüber nicht nachgedach­t. Oder vielleicht doch? Man braucht eben viel Vorstellun­gskraft.

140 Jahre später finden moderne Archäologe­n noch Teile des Skelettes

im Neandertal

 ?? FOTOS/ARCHIV: NEANDERTHA­L MUSEUM ?? In einen Anzug gesteckt, sieht der Neandertal­er gar nicht mehr so alt aus, wie er eigentlich ist. Vor rund 42.000 Jahren sind die Urmenschen durch unsere Gegend gezogen.
FOTOS/ARCHIV: NEANDERTHA­L MUSEUM In einen Anzug gesteckt, sieht der Neandertal­er gar nicht mehr so alt aus, wie er eigentlich ist. Vor rund 42.000 Jahren sind die Urmenschen durch unsere Gegend gezogen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany