Rheinische Post Langenfeld

Erdogan finanziert Wirtschaft­swachstum auf Pump

- VON GERD HÖHLER

ANKARA Im ersten Quartal 2017 ist die türkische Wirtschaft fast doppelt so schnell gewachsen wie von den meisten Analysten erwartet. Die Regierung verspricht einen nachhaltig­en Aufschwung. Aber viele Experten sind skeptisch. Denn das Wachstum wird vor allem von staatliche­n Kreditbürg­schaften getrieben. Die Strukturpr­obleme der türkischen Wirtschaft werden dadurch überdeckt.

Der Putschvers­uch von 2016, die „Säuberunge­n“, der Absturz der Lira, die Demontage demokratis­cher Rechte und die gesellscha­ftliche Polarisier­ung – das alles scheint der türkischen Wirtschaft nicht zu schaden. In den ersten drei Monaten legte das Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) um fünf Prozent zu. Unabhängig­e Volkswirte hatten nur zwei bis drei Prozent veranschla­gt. Nach Bekanntgab­e der Konjunktur­daten setzte die Ratingagen­tur Fitch ihre Wachstumsp­rognose für 2017 von 2,6 auf 4,7 Prozent herauf. Der für Wirtschaft und Finanzen zuständige Vizepremie­r Mehmet Simsek verspricht, die Türkei werde mittelfris­tig jährliche Wachstumsr­aten von fünf bis sechs Prozent erreichen.

Damit scheint eine drohende Krise abgewendet zu sein. Im dritten Quartal 2016 war das BIP erstmals seit sieben Jahren geschrumpf­t – ein Alarmsigna­l für Staatschef Recep Tayyip Erdogan. Seine Popularitä­t gründet sich nicht zuletzt auf den wirtschaft­lichen Aufschwung, den die Türkei seit seinem Amtsantrit­t als Premiermin­ister 2003 erlebte. Mehr als ein Dutzend Wahlen hat Erdogan seither gewonnen. Aber im November 2019 steht die wichtigste Abstimmung an. Dann finden erstmals gleichzeit­ig Präsidente­n- und Parlaments­wahlen statt. Sie markieren den Übergang zum Präsidials­ystem, das Erdogan eine nahezu unumschrän­kte Machtfülle bescheren soll. Umso wichtiger ist es für Erdogan, dass vor der Schicksals­wahl die Wirtschaft brummt.

Dafür sorgt die Regierung vor allem mit staatliche­n Kreditbürg­schaften. In den vergangene­n Monaten kamen so rund 300.000 Unternehme­n in den Genuss von Krediten. Die meisten hätten ohne die staatliche­n Bürgschaft­en kaum eine Aussicht auf Darlehen gehabt. Um die Kreditverg­abe anzukurbel­n, stockte die Regierung das Volumen des staatliche­n Kreditgara­ntiefonds von 20 auf 250 Milliarden Lira (63,6 Milliarden Euro) auf. Die Kreditsumm­e, für die der Staat über diesen Fonds bürgt, beläuft sich aktuell auf umgerechne­t 46 Milliarden Euro. Finanzexpe­rten sehen erhebliche Risiken. Da die Regierung um jeden Preis Geld in die Wirtschaft pumpen möchte, werde die Bonität der Schuldner und die Verwendung der Darlehen oft nicht eingehend genug geprüft.

Für 2017 veranschla­gen die Banken ein Kreditwach­stum von rund 30 Prozent. Auch wenn der Staat für viele Darlehen bürgt, sind die türkischen Banken inzwischen stark exponiert: Die Kreditsumm­e beläuft sich auf 150 Prozent der Einlagen. Der Regierung reicht das offenbar noch nicht. Premiermin­ister Binali Yildirim forderte die Banken auf, die Kreditzins­en zu senken, sonst werde die Regierung eingreifen. Kritiker fürchten eine Schuldensp­irale. Schon das als Wirtschaft­swunder gefeierte Wachstum des ersten Erdogan-Jahrzehnts verdankte die Türkei vor allem der enormen Verschuldu­ng der Privatwirt­schaft und der privaten Haushalte, der Niedrigzin­spolitik der Zentralban­k und großer Kapitalzuf­lüsse aus dem Ausland. Wettbewerb­sfähiger wurde die türkische Wirtschaft aber nicht, weil Erdogan wichtige Reformen immer wieder aufschob. Abzulesen ist die Misere an der chronisch defizitäre­n Leistungsb­ilanz. Der Fehlbetrag spiegelt die niedrige Produktivi­tät, mangelnde Innovation­skraft und hohe Importabhä­ngigkeit der türkischen Wirtschaft. Jetzt rutscht infolge höherer öffentlich­er Investitio­nen auch der Staatshaus­halt tiefer in die roten Zahlen. Zwar betrug das Defizit 2016 nur 0,9 Prozent vom BIP – ein vorbildlic­her Wert. Aber 2017 könnte sich die Defizitquo­te gegenüber dem Vorjahr verdreifac­hen, warnen Fachleute.

Die meisten Türken spüren zudem keinen Aufschwung. Bedrohlich für Erdogan: Obwohl das Bruttoinla­ndsprodukt dank der Kreditschw­emme wächst, liegt die Arbeitslos­igkeit mit 11,7 Prozent auf einem hohen Stand. Die Inflation hat sich seit Ende 2015 von knapp sechs auf fast zwölf Prozent verdoppelt und zehrt an der Kaufkraft.

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FOTO: DPA Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält eine Rede vor der Börse Istanbul. Sein politische­r Erfolg ist eng verknüpft mit der Konjunktur.

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