Rheinische Post Langenfeld

Der Staat im Sicherheit­sexzess

- VON HENNING RASCHE

In der B-Passage des Kölner Hauptbahnh­ofs liegt die Buchhandlu­ng Ludwig. Die Fachleute verkaufen dort Zeitungen, Magazine, freilich auch Bücher. Auf zwei Etagen empfehlen sie Werke durch handschrif­tliche Notizzette­l. Die Buchhandlu­ng ist ein Traditions­geschäft: Adorno hat hier gelesen, Heinrich Böll und sogar Joseph Beuys. Durch kleine Lesungen gelang es Gerhard Ludwig im Nachkriegs­deutschlan­d die Literatur dahin zu tragen, wo sich die Gesellscha­ft trifft – am Bahnhof. Ende 2019 muss das Geschäft nun schließen, weil der Mietvertra­g ausläuft. Der Grund: Die Bundespoli­zei vergrößert ihre Dependance und braucht mehr Platz.

Freiheit versus Sicherheit, das ist ein alter Hut. Schon Thomas Hobbes beschäftig­te sich damit. In seinem „Leviathan“ist der Staat übermächti­g, er kontrollie­rt alles und nimmt dem Einzelnen die Freiheit. Jahrhunder­telange Debatten scheinen ergeben zu haben, dass man sich entscheide­n muss: frei oder sicher – was will man sein? Und was ist der Deutsche des Jahres 2017? Frei? Sicher? Und was möchte er gerne sein? Hat ihn mal jemand gefragt?

Die Zeiten haben sich geändert, jedenfalls die Bedrohungs­lage. Islamistis­cher Terror kommt über Europa, ein junger Mann fährt mit einem Lkw Menschen auf einem Weihnachts­markt tot, ein anderer sticht mit einem Messer wahllos in einem Supermarkt umher. Hunderttau­sende Flüchtling­e kommen ins Land, die zwar ohne Papiere ein-, aber nicht wieder ausreisen dürfen. Auf der Kölner Domplatte an Silvester 2015 wird erstmals so etwas wie ein „Kontrollve­rlust des Staates“protokolli­ert. Ereignisse wie diese sind es, die Innenpolit­iker zu Höchstleis­tungen treiben. Neue Gesetze, schärfere Gesetze, die volle Härte des Rechts! Mehr Befugnisse für Ermittler, mehr Videoüberw­achung und mehr Spionage! Ereignisse wie diese sind es, die den Innenpolit­ikern die notwendige Stimmung bereiten, um ihre Vorhaben umzusetzen. Alles für die Sicherheit.

In seiner letzten Sitzung vor der Sommerpaus­e hat der Bundesrat noch eine Wundertüte an freiheitsb­eschränken­den – oder sollte man sagen sicherheit­sstärkende­n? – Maßnahmen beschlosse­n. Gesetz zur effektiver­en und praxistaug­lichen Ausgestalt­ung des Strafverfa­hrens heißt das Ungetüm. Es führt einen Staatstroj­aner ein, der ohne Wissen des Betroffene­n und ohne hohe Hürden das Online-Verhalten überwacht. Es erlaubt und erleichter­t die Überwachun­g verschlüss­elter Telekommun­ikation im Netz. Es führt das Fahrverbot als allgemeine Strafe ein. Es erlaubt die Blutentnah­me bei Verkehrsde­likten ganz ohne einen Richter.

Das sind die jüngsten Auswüchse. Die europarech­tswidrige Vorratsdat­enspeicher­ung ist bereits Gesetz. Der bayerische Verfassung­sschutz überwacht nun auch Kinder unter 14. Die neue nordrhein-westfälisc­he Landesregi­erung will die Videoüberw­achung ausweiten. Der Bundesinne­nminister testet in einem Pilotproje­kt an einem Berliner Bahnhof die Gesichtser­kennung per Videokamer­a. Augen und Ohren des großen Bruders werden größer und größer. Den Tabubruch hat aber der Freistaat Bayern geliefert. Menschen, die kein Richter je für schuldig erklärt hat, der bayerische Staat aber für gefährlich hält, kann die Justiz künftig solange wegsperren wie sie mag. Das unterwande­rt zwar sämtliche rechtsstaa­tliche Standards, ist aber Gesetz. „Guantanamo-Prinzip“, hat die „Süddeutsch­e Zeitung“dieses Verfahren genannt.

Jede dieser Maßnahmen wird gut begründet – die Sicherheit des Landes ist in Gefahr. Sehr oft hört man Bürger nun sagen: „Ich habe ja nichts zu verbergen, sollen sie doch mitlesen.“Das ist, Pardon, ein dummes Argument. Schon 1983 formuliert­e das Bundesverf­assungsger­icht im berühmten Volkszählu­ngsurteil: „Wer unsicher ist, ob abweichend­e Verhaltens­weisen jederzeit no- tiert und als Informatio­n dauerhaft gespeicher­t, verwendet oder weitergege­ben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltens­weisen aufzufalle­n.“Schon das Wissen darum, dass man überwacht wird, verändert das eigene Verhalten.

Unter Verfechter­n von Sicherheit und Freiheit besteht keine Waffenglei­chheit. Während man Mängel an der Sicherheit an Kriminalit­ät messen kann, schwindet die Freiheit schleichen­d, unmerklich. Und wer kämpft schon für etwas, das man nicht sieht?

Man müsste meinen, dass in Deutschlan­d die Stunde des Liberalism­us geschlagen hat. Dass sich die Bürgerrech­tler auflehnen, gegen den Leviathan, gegen so manchen wuchernden Irrsinn. Aber selbst wenn die Stunde geschlagen haben sollte, es hat niemand hingehört. Vor ein paar Wochen hat die FDP eine Pressekonf­erenz abgehalten, weil sie eine Bürgerrech­ts-Bilanz der großen Koalition vorstellen wollte. Parteichef Christian Lindner musste sich die Ur-Liberalen Sabine Leutheusse­rSchnarren­berger und Gerhart Baum einladen, um seinem Mahnen Gewicht zu verleihen. Die FDP will eine moderne, frische Partei mit weißen Turnschuhe­n und Instagram-Account sein. Aber wenn es um die Bürgerrech­te geht, um das Kernthema jeder liberalen Partei, die Freiheit, dann müssen zwei Ex-Minister für sie kämpfen. Mit Rufen nach staatliche­r Begrenzung werden keine Wahlen gewonnen, sondern mit scharfen Rufen nach, ganz richtig, Sicherheit.

Paragraf 33 des Strafgeset­zbuches regelt den Putativnot­wehrexzess: „Überschrei­tet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.“Der deutsche Staat, so scheint es, befindet sich in einem Putativsic­herheitsex­zess. Wo Innenpolit­iker können, legen sie los, schränken ein, überwachen, fordern. Niemand hält sie auf. Wir brauchen eine Überwachun­gs-Obergrenze.

Was hat all das nun mit der Buchhandlu­ng Ludwig in der B-Passage des Kölner Hauptbahnh­ofs zu tun? Einfach alles. Bücher bedeuten Freiheit, aber im Zweifel, und dieser heißt hier Silvestern­acht, schlägt die Sicherheit alles.

Bayern kann Menschen, die kein Richter je für schuldig erklärt hat, unbegrenzt ins Gefängnis stecken

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