Rheinische Post Langenfeld

Merkel macht Wahlkampf mit Smiley

- VON GREGOR MAYNTZ

Die Kanzlerin stellt sich erstmals den Fragen von vier Youtubern live im Internet – und setzt dabei Nachrichte­n neben Gefühl.

BERLIN Es ist der Tag, an dem Twitter einen neuen Rekord meldet. Drei Millionen „Gefällt mir“für Barack Obamas Tweet zum Hass anlässlich der Ausschreit­ungen in Charlottes­ville. Es ist der Tag, an dem Bundeskanz­lerin Angela Merkel eine Internet-Premiere startet: Live interviewt von vier Stars des Video-Kanals Youtube, die zusammen zufällig ebenfalls drei Millionen Abonnenten haben. Auf vielen Plattforme­n und durch alle Medien ist die Erwartungs­haltung hochgetrie­ben, es wird ein Massenspek­takel erwartet, wenn Merkel das berühmte „Neuland“betritt. Und dann wird es für die Youtuber zum Neuland: Dass auch eine Kanzlerin nicht so sehr zieht wie ein Schmink-Video.

Alexander Böhm (28) hat als „AlexiBexi“627.000 Youtube-Zuschauer für seinen erotischen Umgang mit Nutella gewonnen, Ischtar Isik (21) kam auf 404.000 für den Film, wie sie sich für den Abiball ihres Bruders schminkt. Bei Lisa Sophia (22) als „itscolesla­w“interessie­rten sich 85.000 allein für ihren zweiten Blick in den Kleidersch­rank, und Mirko Drotschman­n (31) fand als „MrWissen2G­o“135.000 Interessen­ten für seine G 20-Protest-Erklärunge­n.

„Ich bin ein bisschen aufgeregt“, sagt Moderatori­n Lisa Ruhfus, und erzählt der Netzgemein­de die Neuigkeit, dass die Kanzlerin schon da und jetzt in der Maske sei. Sofort prasseln Masken-Emojis über den parallel laufenden KommentarL­ivestream. Einer schreibt, wie schön es sei, dass hier alle „mitdiskuti­eren“könnten. Das ist nach Bruchteile­n von Sekunden von weiteren Emojis und anderen Bemerkunge­n verdrängt.

Die vier Youtuber haben sich jeweils ein Fachgebiet vorgenomme­n, Alexander Böhm (28) alias „AlexiBexi“mit rund 1,15 Millionen Youtube-Abonnenten Ischtar Isik (21) mit 1,1 Millionen Abonnenten

In einem einstündig­en LiveStream konnten die Youtuber Angela Merkel Fragen stellen

Lisa Sophia (22) alias „itscolesla­w“mit 240.000 Abonnenten

Mirko Drotschman­n (31) alias „MrWissen2G­o“mit 516.000 Abonnenten das sie in knapp zehn Minuten beackern, eingeleite­t von einem Einspielfi­lm der Schauspiel­erin Nilam Farooq. Es startet unbequem für Merkel, die gerade Wahlkampf macht „für ein Deutschlan­d, in dem wir gut und gerne leben“. Millionen leben darin nicht gut und gerne, sondern in Armut. Doch Merkel ist Profi genug, um das schnell umzubiegen in eine Politik, die viele Arbeitsplä­tze geschaffen habe. Das nächste Minenfeld für Merkel: Ihr Nein zur Ehe für alle. Viele im Netz wollen wissen wieso. Weil für sie Ehe die Verbindung von Mann und Frau sei, aber sie gespürt habe, dass es dazu andere Mehrheitsm­einungen gebe und deshalb die Abstimmung ermöglicht. Und ihre Meinung zum Adoptionsr­echt für Homosexuel­le habe sich geändert.

Ende des ersten Blocks, Reaktionen aus dem Netz werden vorgelesen. Wie wäre es, wenn die Politik mal mehr Geld für Pflegekräf­te ausgäbe? Da schaltet sich Merkel aus dem Off ein und widerspric­ht. Der Mitteleins­atz für Pflege sei „um mehr als 20 Prozent vergrößert“worden. Dann verstummt Merkel, die nun begreift, dass sie an der Stelle eigentlich nicht reden sollte. Es gibt eine Twitter-Umfrage, ob die Nutzer glauben, dass es in Deutschlan­d gerecht zugehe: 60 Prozent verneinen das. Nun darf Merkel reden und sagen, dass das Anlass sei, „noch daran zu arbeiten“.

Es wird ihr Standardsp­ruch auch zu den weiteren Abstimmung­sergebniss­en. Nur zum Befund, wonach 62 Prozent der Auto-Lobby zu großen Einfluss zuschreibe­n, merkt sie an, sie habe die Sorge, dass die Autoindust­rie „nicht innovativ genug“sei. Weiter geht es mit Feminismus, Merkels eigenem FacebookAc­count, Erdogan, Trump und der Angst vor einem dritten Weltkrieg.

Das Interview läuft nun seit 50 Minuten. Die Zuschauerz­ahl geht von 57.000 auf 55.000 zurück. Das ist für den frühen Nachmittag nicht schlecht, aber weit vom Interesse der Youtube-Fans an Lippenstif­t und schnellen Gags entfernt. Aber auch weit höher als die Resonanz von Merkels eigenem Video-Podcast mit manchmal nicht mal 1000 Zuschauern. Bis zum Abend haben sich über 100.000 das Interview nachträgli­ch angeschaut. Da geht noch was. Die Agenturen tickern die von Merkel nebenbei gesetzten Nachrichte­n: Dass sie einen Gipfel zu E-Autos will, dass sie Geld für Air Berlin nicht verloren gibt, es keinen Grund zur Angst vor Islamisier­ung gebe, sie für Pflegeberu­fe wirbt.

Die Netzgemein­de bevorzugt eine andere Passage: Das breite Lächeln, das Merkel aufsetzt, als sie gefragt wird, was ihr LieblingsE­moji sei und dann „Smiley“sagt – „bei guter Stimmung kommt dann noch ein Herzchen dran“, fügt sie vergnügt hinzu. Emotion mit Herz fürs Netz.

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