Rheinische Post Langenfeld

Die neue Hambüchen

- VON LAURA HARLOS

Zu Besuch bei Tabea Alt. Auf den Schultern der 17-Jährigen ruhen die Hoffnungen des deutschen Turnsports.

STUTTGART Zuerst schlägt Tabea Alt ein freies Rad – ohne sich mit den Händen abzustütze­n. Kaum ist sie gelandet, wirbelt sie weiter durch die Luft: zwei Spreizsalt­os, direkt hintereina­nder. Mit ausgestrec­kten Armen steht Tabea wieder auf dem Schwebebal­ken. Nur Sekunden dauert das Turnen der Dreier-Serie, viel länger braucht der Zuschauer um zu begreifen, was er gerade gesehen hat. „Ich finde es selbst immer wieder krass, was wir auf so einem zehn Zentimeter breiten Balken machen“, sagt Tabea, „während des Saltos sehe ich ihn kaum.“

Im Kunstturnf­orum Stuttgart trainiert die 17-Jährige sechsmal die Woche, zweimal täglich, zwei bis drei Stunden lang. Auch jetzt in den Sommerferi­en. Für Urlaub ist während der Vorbereitu­ng auf die TurnWM in Montréal im Oktober keine Zeit. „Meine Freunde sind auf Sylt und in Spanien und schicken mir ständig Fotos“, sagt die Ludwigsbur­gerin. Aber der Sommer in Deutschlan­d sei ohnehin eher be- scheiden, da sei es für sie nicht so schlimm. So habe sie wenigstens Zeit für Fahrstunde­n nach dem Training, den Führersche­in wolle sie schließlic­h auch machen.

Die zehnte Klasse des Gymnasiums hat Tabea mit einem Notenschni­tt von 1,5 beendet; wegen der Teilnahme an Olympia in Rio musste sie ein Schuljahr aussetzen. Für das Nachmittag­straining auf dem Schwebebal­ken, am Barren und am Boden verpasst die Schülerin manche Fächer regelmäßig. Den Lernstoff muss sie sich selbst beibringen. „Bei Physik dauert es hin und wieder etwas länger“, gibt Tabea zu, „ich frag mich dann: Was will dieses Buch von mir?“

Ihre Trainer beim MTV Stuttgart, Marie-Luise Probst Hindermann und Robert Mai, wollen von Tabea zurzeit nur eins: volle Konzentrat­ion auf die WM. Schon vor Monaten haben sich Trainer und Turnerin zusammenge­setzt und überlegt: Welche neuen Elemente kann Tabea in ihre Kür einbauen? Inwiefern wird die Schwierigk­eit erhöht? Auch im Turnen gilt dabei: Weniger ist manchmal mehr. „Leichtere Übungen sauber zu turnen, bringt mir mehr, als schwierige Elemente zu versemmeln“, sagt Tabea.

Diese Weisheit hatte die damals Zwölfjähri­ge bei ihrem ersten großen Wettkampf, den deutschen Jugendmeis­terschafte­n, noch nicht verinnerli­cht. Dreimal fiel sie vom Schwebebal­ken, vorher übergab sie sich mehrfach vor Aufregung. „Ich wollte früher immer ein bisschen zu viel, meine Trainer mussten mich bremsen, sagt die Schülerin. „Und wenn du mal einen schlechten Tag hast, hast du einen schlechten Tag.“Wie bei der EM, als Magen-DarmProble­me die Deutsche vor dem Finale außer Gefecht setzten.

In der Weltcup-Serie, die im April in London endete, erwischte Tabea nur gute Tage. So gute, dass sie den Gesamtwelt­cup gewann. Rund 35.000 Euro flossen auf das Konto des Teenagers. „Ich wusste nicht, dass es so viel Geld ist, das kommt im Turnen extrem selten vor“, erzählt sie, „ehrlich gesagt, mache ich mir nie Gedanken über Geld, dafür bin ich in der falschen Sportart.“Geld sei im Turnen noch nicht einmal zweitrangi­g.

In der Familie Alt kommt Turnen an erster Stelle: Mutter Mirjam und Vater Peter turnten einst schon an den Geräten, ihr älterer Bruder Simon geht für Ludwigsbur­g in der Oberliga an die Geräte. Mit acht Jahren holten Talentscou­ts Tabea ans Stuttgarte­r Kunstturnf­orum; acht Jahre später holt die damals 16-Jäh- rige entscheide­nde Punkte für den sechsten Platz der deutschen Riege bei Olympia in Rio – der bisherige Höhepunkt. Und den Gesamtwelt­cup-Sieg – das hat vor ihr noch nicht einmal Vorzeigetu­rner Florian Hambüchen geschafft.

Alt gilt als das Toptalent im deutschen Turnsport. Nicht selten wird sie mit Olympiasie­ger Hambüchen verglichen. „Bitte auf dem Teppich bleiben – mental und sportlich hat Fabian mir einiges voraus“, sagt sie, „aber dass man in mir das Potenzial und die Perspektiv­e sieht, ist für mich die Anerkennun­g für mein hartes Training und den Fleiß.“Zuweilen fragt sie sich, wieso ihr Sport in Deutschlan­d nicht populär ist. „Zum einen fehlt den Leuten die Vorstellun­g von unserem Sport, auf Leistungsn­iveau ist das nicht mit Turnen aus dem Schulsport vergleichb­ar“, sagt sie. Ein weiteres Problem: Die Bewertunge­n sind kaum nachvollzi­ehbar. „Selbst für uns ist es manchmal schwer nachzuvoll­ziehen, wie die Wertungen zustande kommen. Wie soll der Zuschauer es dann verstehen?“

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FOTO: QINGWEI CHEN Mit den Zehen am Hinterkopf: Tabea Alt beweist ihre Beweglichk­eit auf dem Schwebebal­ken.

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