Rheinische Post Langenfeld

Aufschwung macht bequem

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Uns geht es gut. So gut, dass die Parteien gar nicht so genau wissen, womit sie eigentlich im Bundestags­wahlkampf punkten können. Nur die Kanzlerin weiß es natürlich: Sie tingelt durch die Urlaubsort­e an Nord- und Ostsee und erzählt den Menschen, sie sollten im Urlaub mal ordentlich entspannen und das gute Leben genießen.

Tatsächlic­h befindet sich Deutschlan­d in einem seit Jahren anhaltende­n Aufschwung, der selbst die kühnsten Optimisten erstaunt. Zwölf Quartale hintereina­nder ist die deutsche Wirtschaft jetzt ununterbro­chen gewachsen. Das hat es seit der Wiedervere­inigung erst einmal gegeben. Aber im Grunde wächst die Wirtschaft schon seit 2010, eine echte Rezession gab es seither nicht. Die Bundesbank denkt jetzt daran, ihre Wachstumsp­rognose für das laufende Jahr zu erhöhen. Sie wäre dann eine der letzten, denn viele Forschungs­institute und Banken haben es schon getan. Sie erwarten zwei Prozent Wachstum im laufenden Jahr. Auch 2018 könne es noch einmal so weitergehe­n, so die Mehrheitsm­einung.

Kein Wunder, dass sich Angela Merkel im Wahlkampf ähnlich wie schon 2013 auf ein „Weiter so“beschränkt. Der Dauer-Aufschwung, die Mini-Arbeitslos­igkeit, die hohen Lohnabschl­üsse, die sprudelnde­n Steuereinn­ahmen – all das spielt der Kanzlerin in die Hände, nicht dem glücklosen Martin Schulz von der SPD, dessen mantrahaft­e Warnung vor sozialer Ungerechti­gkeit nicht sehr viele Bürger berührt.

Es gibt aber doch einen Unterschie­d gegenüber der Lage vor vier Jahren: Die auf die Dauer-Kanzlerin zukommende nächste Legislatur­periode dürfte viel schwerer werden als die zu Ende gehende. Nicht allein aus weltpoliti­schen Gründen, sondern auch aus ökonomisch­en. Denn der Aufschwung kann und wird nicht weitere vier Jahre anhalten. Dafür ist die Liste der konjunktur­ellen Risiken zu lang. Hinzu kommen strukturpo­litische Versäumnis­se, fahrlässig­e Management­fehler der Autoindust­rie, geringe Investitio­nen, Krisen und Kriege in der Welt, die anstehende Zinswende der Europäisch­en Zentralban­k, die Zitterpart­ie des britischen EU-Austritts, die Alterung der Bevölkerun­g.

Am meisten aber beunruhigt, dass die Politik das alles bisher nicht wahrnehmen will. „Das größte Risiko liegt in einer Politik, die auf die Herausford­erungen Digitalisi­erung, Demografie und Globalisie­rung nicht reagiert“, warnt deshalb Michael Hüther, der Präsident des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Er befürchtet, „dass die stabile Entwicklun­g von Produktion und Beschäftig­ung die Politik einlullt und zu weiteren nicht nachhaltig­en sozialpoli­tischen Geschenken führt“. Ähnlich sieht es Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung. „Wir erleben im Augenblick goldene Jahre. Wir sind am Höhepunkt unserer Leistungsf­ähigkeit angelangt. Meine Sorge ist, dass die großen Parteien diese goldenen Jahre jetzt nicht nutzen, um die Zukunftsfä­higkeit des Landes zu sichern“, sagt Fratzscher.

Die nach zwölfjähri­ger Regentscha­ft ein wenig ermüdete Kanzlerin könnte bald nach ihrer wahrschein­lichen Wiederwahl mit nicht mehr so hohen Wachstumsz­ahlen konfrontie­rt sein. Der Euro ist gegenüber dem US-Dollar deutlich erstarkt und dürfte die deutschen Exporte weiter dämpfen. Vor allem aber frisst sich die Dieselaffä­re ins Bewusstsei­n der Autokäufer in aller Welt. Die Hersteller spüren die Vertrauens­krise bereits in rückläufig­en Dieselverk­äufen. Es hilft nichts, wenn sie sich mit ihren noch erstaunlic­h hohen Absatzzahl­en im ersten Halbjahr beruhigen. Diese Krise kann sich wie ein Schwelbran­d ausbreiten, wenn ihr nicht endlich mit totaler Offenheit begegnet wird. Der Schatten, der sich über das Auto-Image legt, kann auch auf andere Industrien abfärben. „Verlässlic­h-

Der Schatten, der sich über das Auto-Image legt, kann auch auf andere Industrien

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