Rheinische Post Langenfeld

Erdogans Internieru­ngslager

- VON FRANK NORDHAUSEN

Das Gefängnis Silivri ist Europas größte Haftanstal­t. Dort eingesperr­t sind hauptsächl­ich Regierungs­kritiker, darunter auch Deniz Yücel.

ISTANBUL Silivri ist ein Wort, das in der Türkei einen unheilvoll­en Klang hat. Anfang August wurden der Berliner Menschenre­chtler Peter Steudtner und sein schwedisch­er Kollege Ali Gharavi in das berüchtigt­e Großgefäng­nis im Westen der türkischen Metropole Istanbul verlegt, in dem auch der deutsche Korrespond­ent der „Welt“, Deniz Yücel, seit nunmehr vier Monaten ohne Anklage festgehalt­en wird. Gestern durfte der deutsche Botschafte­r in der Türkei, Martin Erdmann, Yücel besuchen. Wie lange der Journalist noch in Silivri einsitzen muss, weiß niemand.

Der hochmodern­e Gefängnisk­omplex umfasst rund 44 Hektar und gilt mit einer Kapazität von bis zu 13.000 Häftlingen als größte Haftanstal­t Europas. Weil dort fast ausschließ­lich Opposition­elle einsitzen, gilt Silivri in der Türkei inzwischen als Synonym für ein politische­s Gefängnis wie der frühere Stasi-Knast in Bautzen.

Nähert man sich der riesigen Anlage über die Autobahn von Istanbul, fallen zuerst die kilometerl­angen Betonmauer­n mit Stacheldra­ht, Wachtürmen und modernster Überwachun­gstechnik ins Auge, dahinter weiß getünchte Häuserbloc­ks mit roten Dächern. „Silivri Strafansta­lten-Campus“, steht am schwer bewachten Eingangsto­r. 80 Kilometer vom Stadtzentr­um und 1000 Meter vom Marmara-Meer entfernt liegt die 2008 eröffnete Haftanstal­t. Seit dem Putschvers­uch gegen den türkischen Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan vor einem Jahr sind fast alle „normalen Kriminelle­n“verlegt worden, um Platz für die „Politische­n“zu schaffen. Die meisten Zellen sind für drei Häftlinge vorgesehen, dazu gibt es 38 Einzelzell­en.

Der ehemalige „Cumhu- riyet“-Chefredakt­eur Can Dündar bezeichnet­e Silivri in seinem Buch „Lebenslang für die Wahrheit“deshalb als „Internieru­ngslager für Erdogan-Gegner“. Er verbrachte dort drei Monate in Untersuchu­ngshaft, bevor er im Februar 2016 entlassen wurde und nach Berlin flüchtete. Kemal Kiliçdarog­lu, Chef der sozialdemo­kratischen CHP und türkischer Opposition­sführer, nannte es sogar „ein Konzentrat­ionslager des 21. Jahrhunder­ts: „In der Türkei ein Opposition­eller zu sein, kann bedeuten, sich in diesem Konzentrat­ionslager in Silivri wiederzufi­nden.“

Einer breiteren Öffentlich­keit bekannt wurde das Gefängnis während der Ergenekon- und BalyozScha­uprozesse gegen insgesamt mehr als 500 Generäle und hochrangig­e Offiziere, die in dem eigens auf dem Areal errichtete­n Sitzungssa­al zu teils langen Gefängniss­trafen verurteilt wurden. Erdogan erklärte sich damals selbst zum „Staatsanwa­lt“und drängte auf harte Urteile. Doch die Schuldsprü­che erfolg

ten aufgrund gefälschte­r Bewei- se, und die Staatsanwä­lte waren Anhänger der islamische­n Gülen-Bewegung, die Erdogan inzwischen als Erzfeind betrachtet und für den Putschvers­uch vor einem Jahr verantwort­lich macht. Die Prozesse erwiesen sich als Intrige, um die politische Macht des Militärs zu zerschlage­n. Inzwischen wurden die verurteilt­en Generäle freigespro­chen, während die gülenistis­chen Staatsanwä­lte und Richter auf der Flucht oder selbst im Gefängnis sind.

Die Zellen in Silivri füllen nun vor allem mutmaßlich­e Gülenisten, die im Zuge der Säuberunge­n und Verhaftung­swellen nach dem Putschvers­uch eingesperr­t wurden, aber auch andere Opposition­elle: Schrift- steller, Journalist­en, kurdische Politiker, Gewerkscha­fter, Richter und Staatsanwä­lte. Das Gefängnis ist laut Andrew Gardner, dem Sprecher von Amnesty Internatio­nal in der Türkei, hoffnungsl­os überfüllt; oft müssten sich fünf oder sieben Personen eine Zelle teilen. Die in Deutschlan­d bekanntest­en SilivriHäf­tlinge sind die beiden Berliner Deniz Yücel und nun Peter Steudtner, denen Erdogan öffentlich vorwirft, Terrorunte­rstützer und Agenten zu sein. Ihre Untersuchu­ngshaft kann bis zu fünf Jahre dauern.

Deniz Yücel sitzt sogar in Einzelhaft im Hochsicher­heitsberei­ch. Dort besuchte ihn die CHP-Abgeordnet­e Safak Pavey, die seine Haft- bedingunge­n als so beschrieb: „Seine Zelle ist viermal sechs Meter groß, entspreche­nd gering ist die Bewegungsf­reiheit. Er hat keinen Kontakt zu anderen Insassen. Über den kleinen Hof vor seiner Zelle kann er die anderen Häftlinge hören, aber nicht sehen. Er bekommt nur ein wenig Sonne und kann den Himmel kaum sehen, weil sie den Hof vor Kurzem mit Stacheldra­ht abgedeckt haben, um den Austausch zwischen Gefangenen zu unterbinde­n.“Einmal in der Woche dürften ihn seine Frau und sein Anwalt für je eine Stunde besuchen.

Nach Angaben von Menschenre­chtsorgani­sationen und türkischen Anwaltsver­bänden werden diese Gespräche überwacht und aufgezeich­net. Deniz Yücel hat immerhin Zugang zu Zeitungen und darf Radio hören. Selbst diese Möglichkei­ten werden mutmaßlich­en Gülenisten zum Teil verwehrt. „Mein Mann darf kein Radio haben, denn damit können angeblich geheime Botschafte­n gesendet werden“, erzählt die Frau eines inhaftiert­en Richters, der nach ihren Angaben nie etwas mit der Gülen-Bewegung zu tun hatte, aber als links und regierungs­kritisch gilt. Da die Massenverh­aftungen in der Türkei anhalten, wächst auch der Bedarf an Haftanstal­ten: 179 neue Gefängniss­e werden derzeit geplant oder errichtet.

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FOTO: DPA Eine Luftbildau­fnahme zeigt das Gefängnis Silivri im Westen der Türkei.
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„Welt“-Journalist Deniz Yücel (34)

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