Rheinische Post Langenfeld

Die Porträts seiner Lieben

- VON FRANK DIETSCHREI­T

„Closer“zeigt Radierunge­n von Lucian Freud im Berliner Gropius-Bau. Auch der Enkel von Sigmund Freud durchleuch­tet den Mensch.

BERLIN Wir sehen jede Falte, jeden Fleck und jedes Härchen. Die Gesichter sind oft müde, die Augen traurig und leer. Manchmal sind die Körper wie ausgedörrt, mitgenomme­n und schwer gezeichnet vom gelebten Leben, die Haut ist spröde und durchsicht­ig wie altes Papier. Dann wieder scheint der gnadenlos schauende und präzise sein Handwerk vollführen­de Künstler wie besessen von der wabbeligen und wulstigen Fleischmas­se einiger seiner Modelle. Hier schaut jemand genau hin, geht ganz nah heran und erfasst den Menschen in seiner existenzie­llen Verzweiflu­ng und ausweglose­n Vergänglic­hkeit.

Lucian Freud, 1922 in Berlin geboren, 2011 in London gestorben, gehört zu den bedeutends­ten Künstlern des 20. Jahrhunder­ts, und wie wohl kaum ein Zweiter hat er den psychologi­sch tiefgreife­nden und schonungsl­osen Realismus in der Darstellun­g des Menschen gegen die wechselnde­n Moden behauptet. In seiner Malerei hat Freud so lange Farbschich­tungen übereinand­ergelagert, bis die Kreatur Mensch in ihrer brüchigen und erhabenen Schönheit zum Vorschein kommt. In seinem grafischen Oeuvre und vor allem in seinen Radierunge­n hat er ritzend und kratzend mit wilden Schraffure­n und geätzten Linien die Körperlich­keit seiner mit inniger Liebe und forschende­m Interesse porträtier­ten Modelle noch einmal detailreic­h zugespitzt.

„Closer“heißt eine Ausstellun­g in Berlin mit über 50 seiner selten gezeigten Radierunge­n. Ergänzt wird die Schau um Ölbilder und Aquarelle, die wie eine fremdartig­e Zugabe wirken und allenfalls andeuten, welche Bedeutung die Radierung für den Maler hatte: Hier ergänzen und überlappen sich verschiede­ne künstleris­che Ausdrucksf­ormen, oft arbeitet Freud mit denselben Modellen und Motiven. Die Radierung ist für Freud keine Vorstudie, sondern sie hat eine eigenständ­ige Kraft, die nicht mehr geändert werden kann.

Warum sollte Freud auch etwas ändern? Wenn er seine von dem nahenden Tod gezeichnet­e Mutter für die Ewigkeit festhält, oder wenn er seine Lieblingsm­odelle, die üppige Sue Tilley oder die androgyne Su- sanna Chancellor, in ihrer obsessiven Nacktheit und verletzlic­hen Schönheit porträtier­t, stimmt alles, wird der biologisch sezierte, mit schlaffen Genitalien und verlebter Haut auf realistisc­he Weise porträtier­te Mensch in seiner Individual­ität und Einzigarti­gkeit erfasst.

Die wundersame Ausstellun­g gleicht einer späten Heimkehr des Künstlers. Denn der Enkel Sigmund Freuds musste mit seiner Familie 1933 aus Nazi-Deutschlan­d fliehen, wurde 1939 britischer Staatsbürg­er und wurde zu einer zentralen Figur der sogenannte­n „Londoner Schule“, zu der auch Francis Bacon und David Hockney gehören. Sie alle beschäftig­en sich, allen zeitgeisti­gen Anfeindung­en zum Trotz, weiterhin mit dem Gegenständ­lichen. Von seinen Kollegen hat sich Freud am konsequent­esten dem autobiogra­fisch fundierten Porträt verschrie- ben, hat immer wieder seine Modelle in sein Atelier zu oft zermürbend­en, mitunter auch tagelangen Sitzungen gebeten. Wenn er seine Künstler-Klause verließ, dann nur, um in seinem Garten die Bäume, Blumen, Disteln zu malen oder auf die Kupferplat­te zu ritzen. Oder um (2001) Königin Elisabeth II. auf die Leinwand zu bannen. Doch wichtiger als die Queen dürfte ihm sein geliebter Windhund Pluto gewesen sein. Unzählige Male hat Freud ihn in sein Werk geschmugge­lt. Auch in das „Doppelport­rät“, das als Finale der Ausstellun­g fungiert und den Jagdhund neben die erschöpfte Susanna Chancellor bettet.

Für Freud war die Radierung keine bloße Abwechslun­g, kein Zeitvertre­ib. Er hat die Kupferplat­te wie eine Leinwand behandelt, sie auf die Staffelei gestellt und – als würde er ein Bild malen – sich im Stehen daran zu schaffen gemacht, um dem Geheimnis des Daseins und der Natur auf den Grund zu kommen. Lucian Freud hat einmal gesagt, er erwarte, dass das Kunstwerk „erstaunt, verstört, verführt, überzeugt“. Genau das ist jetzt in Berlin zu sehen und zu erleben. Grandios.

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„Large Sue“, Radierung (1995)

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