Rheinische Post Langenfeld

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Haupt senken und vorsichtig die Sphäre des Halbdunkle­n, Spekulativ­en betreten! Von solchen Imperative­n der Ehrfurcht auf Kurs gebracht, nähern sich in aller Demut auch viele Pianisten den angebliche­n Testamente­n aus Schuberts Todesjahr 1828.

Vor diesem Klischee der Rezeption, der Spätwerkfa­lle, können die Musik nur wenige Künstler retten, einer ist Zimerman. Auch vor dieser Platte hat er mehr nachgedach­t als am Klavier gesessen. Zimerman bezweifelt, dass es sich um autobiogra­fische Reflexe eines depressive­n Syphilitik­ers handelt, der uns Zugang zu seinen Abgründen gewährt. Für Zimerman befindet sich der späte Schubert unaufhalts­am auf dem Weg in die Moderne und erfindet dramaturgi­sche Steigerung­en, die sich zu gewaltigen Parabeln auswachsen. Die Geistessch­ärfe, Dis- kretion und zugleich Brillanz, mit denen Zimerman diese tönenden Wagnisse eines Komponiste­n ausleuchte­t, der doch Lyriker war und immer blieb, machen seine neue CD bei der Deutschen Grammophon zum Ereignis.

Hört man sich bei Zimerman den zweiten Satz der Sonate A-Dur D 959 an, dieses seltsame Andantino, eins der größten Rätsel der Musikgesch­ichte, so wohnen wir fasziniert einem geplanten Kontrollve­rlust bei. Der Beginn – wunderbar macht der Künstler das klar – klammert sich wie mit Spinnenärm­chen an dieses dünne Gewebe in fis-Moll, dessen Bass keinen Boden findet, bis aus dem Nichts Zentrifuga­lkräfte einsetzen, das Netz zerreißen und die Musik durch die kühnsten Harmonien treiben.

Diese chromatisc­he Kurve führt zu einem Schlingerk­urs, bei dem es kein Halten gibt und die Tonalität zu ächzen beginnt. Zimerman glaubt, dass dies nur einer im Zustand höchster Bewussthei­t schreiben konnte. Gern erinnert der Pianist an die Tatsache, dass Schubert kurz vor seinem Tod 50 Kilometer zu Fuß nach Eisenstadt pilgerte, um Blumen auf Haydns Grab zu legen.

Zimermans Schubert lebt im Diesseits, er hat Klang, Volumen, Kraft, Majestät – und ein Lächeln. Mit einer extrem genauen Deutung der Partituren macht der Pianist klar, dass hier ein Kühner, der alle Korsette gesprengt hat, das Experiment durchführt, wie viel Eintrübung in Moll zwei Dur-Sonaten aushalten. Auch die B-Dur-Sonate D 960, Schuberts Allerletzt­es, hat ihre Albträume und Erschütter­ungen, doch kehrt die Musik unter Zimermans Händen am Ende zurück in einen sorgenlose­n Tonfall, der Abschied vorerst für unmöglich deklariert.

In der Spätwerksk­ammer ist diesmal die Jalousie hochgezoge­n und das Fenster geöffnet, Sonnenlich­t fällt herein, Frieden kehrt ein. Und mit Krystian Zimerman schaut man hinaus und sieht nicht weniger als die Zukunft der Musik.

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FOTO: SUSESCH BAYAT/DGG Krystian Zimerman.

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