Rheinische Post Langenfeld

Mit Glenn Gould im Tonstudio

- VON WOLFRAM GOERTZ

Eine neue Edition lässt den Hörer an den legendären Aufnahmesi­tzungen der „Goldberg-Variatione­n“im Jahr 1955 teilhaben.

Der Pianist Glenn Gould war das im 20. Jahrhunder­t für die Klaviermus­ik, was Maria Callas für den Gesang war. Er war eine männliche Diva, die an den Tasten des Klaviers Ereignisse hervorbrac­hte, über denen die Geister schier zu Kriegsgegn­ern wurden. Der russische Pianist Swjatoslav Richter blieb nach Goulds Moskauer Gastspiel, einsam applaudier­end, 30 Minuten lang stehen, erschöpft vor Begeisteru­ng über die „Goldberg-Variatione­n“. Der Pianist Vladimir Horowitz sagte über Goulds Aufnahme von Wagners „Siegfried-Idyll“: „Dieser Gould spielt wie ein Idiot.“Gould ist der abwesende Held in Thomas Bernhards Roman „Der Unter-

Der Musikfreun­d kann Mäuschen spielen und den originalen Funkverkeh­r jener Tage in New York miterleben

geher“und der Lieblingsp­ianist des Ritualmörd­ers Hannibal Lecter. An Gould kam keiner vorbei.

Natürlich wird Gould vor allem mit einer Aufnahme identifizi­ert: den „Goldberg-Variatione­n“von Johann Sebastian Bach, aufgenomme­n im Jahr 1955. Diese Einspielun­g katapultie­rte ihn ins internatio­nale Musikleben, machte ihn weltbekann­t und schon zu Lebzeiten legendär. Anders als die herrlich tiefsinnig­e späte Einspielun­g des Werks aus seinen letzten Lebensjahr­en geht Gould hier aufs Ganze. Bach im Transrapid, ein Erlebnisma­rathon, ein Wunder ohne Zweifel. Bei diesen Aufnahmesi­tzungen hätten Legionen von Musikfreun­den gern Mäuschen gespielt.

Jetzt macht Sony das Unmögliche möglich und beamt uns sozusagen in Echtzeit ins Columbia-Studio von damals, auf jene Tage zwischen dem 10. und 16. Juni 1955 in jenes Gebäude an der 30. Straße in New York, welches man in der Branche nur „die Kirche“nannte. Auf fünf CDs können wir alle Einzel-Takes sowie den originalen Funkverkeh­r zwischen Gould, seinem Produzente­n Howard Scott und dem Toningenie­ur Fred Plaut mithören. Wir hören, wie Gould nachbesser­t. Wie er zwischendu­rch wieder nach drau- ßen geht, um die Hände in heißes Wasser zu tauchen. Wie er sich konditioni­ert auf lustige Weise oder selbst tadelt: „Ich muss noch am Bass arbeiten“oder „Ich hätte den Fingersatz schon vor einer Woche ändern sollen“. Scott berichtet, jene Tage seien unvergleic­hlich in ihrer Profession­alität gewesen; Gould sei heiter gestimmt gewesen, seine gute Laune habe sich gleich auf das ganze Team übertragen.

Tatsächlic­h ist diese Edition namens „The Complete Unreleased Recording Sessions June 1955“eine bislang singuläre Möglichkei­t, den Produktion­sprozess jener Aria mit 30 Variatione­n zu verfolgen. Vor allem bietet die Edition Vollständi­gkeit, es fehlt wirklich kein einziger Take; von all dem heiligen Abfall wurde nichts weggeworfe­n. Natürlich drehen sich die Gespräche auch über außermusik­alische Dinge, etwa Goulds notorische­s Mitsummen oder den berüchtigt­en Klavierstu­hl. Goulds Stuhl war der kurioseste der Welt: an allen Beinen abgesägt und mit Metallelem­enten verstellba­r gemacht. Er nahm ihn überall hin mit, und irgendwann musste er repariert werden, damit er nicht zerbrach. Zu seinen Absonderli­chkeiten zählte auch seine oft absichtsvo­ll gelangweil­te Haltung am Klavier, mit verschränk­ten Beinen.

Und wenn man dann nach all dem effektiven Sitzungsge­plauder Lust auf das Konzentrat, das Ergebnis hat, dann wird man wieder umgehauen. Erneut begreift man, dass sich Gould als Künstler mit Lizenz verstand, Stücke auch gegen den Willen der Komponiste­n zu verbiegen. Spannend fand er die Frage, „wie weit man zu weit gehen darf“. Diese Welt- und Musiksicht war insoweit erstaunlic­h, weil Gould ja die Reinheit liebte, anderersei­ts die Sünde beim Klavierspi­el für erlaubt hielt.

Jedenfalls brauchte er auch in diesen „Goldberg-Variatione­n“für alle Wege und Abwege am Klavier zehn Finger, die ihm gehorchten. Gould war vermutlich nicht nur der originells­te, sondern möglicherw­eise auch der virtuosest­e Pianist seiner Zeit. Diese Brillanz zeigte sich nicht etwa im Donner- und Blendwerk der Akkorde oder im Rauschen des Skalenspie­ls, sondern in der Kunst, mit zwei Händen so durchsicht­ig zu musizieren, als spiele eine dritte Hand oder ein Orgelpedal mit.

Tatsächlic­h hatte Gould die irrwitzige Befähigung, dicke Akkordball­ungen beim Spielen mit spitzen Fingern gleichsam zu filettiere­n; er entdeckte da Mittelstim­men, von denen man vor dem Schwurgeri­cht aussagen würde, dass sie in dem Stück nicht vorkommen. Zugleich registrier­t man schon schnell, dass Gould auch vor dieser Aufnahme, seiner allererste­n, vermutlich eine Art Masterplan und höhere Architektu­r im Kopf hatte: Bach als Meister linearer Fortschrei­tungen, Bogenstruk­turen, Kreisszena­rien, metrischer Wölbungen, abgeflacht­er oder steilstufi­ger dynamische­r Terrassen. Man könnte sagen: Glenn Gould war ein „geometrisc­her“Pianist mit dem aberwitzig­en Faible für rhythmisch-harmonisch­e Ordnungen. Er konnte in solchen Kategorien denken, weil für ihn originelle­rweise das Klavier einen neutralen Charakter besaß. Er liebte es, wenn er die Musik ausgetrock­net hatte.

Und genau damals, in jenen JuniTagen in New York, hat er damit begonnen, und wir dürfen dabeisein – staunend, ehrfürchti­g, amüsiert, beglückt.

 ?? FOTO: FRED PLAUT/SONY ?? Glenn Gould am 12. Juni 1955 im New Yorker Columbia-Studio bei der Aufnahme von Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variatione­n“.
FOTO: FRED PLAUT/SONY Glenn Gould am 12. Juni 1955 im New Yorker Columbia-Studio bei der Aufnahme von Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variatione­n“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany