Verjüngungskur für Mendelssohn
John Eliot Gardiner und Pablo Heras-Casado interpretieren Sinfonien.
Sie teilen ein bisschen ihr posthumes Schicksal, Joseph Haydn und Felix Mendelssohn, sie gelten als die Belächelten und Verharmlosten. Allerdings zählen diese Klischees zu den zwar meistverbreiteten und zugleich oberflächlichsten, gar flegelhaftesten der Musikgeschichte.
Derzeit erlebt Mendelssohn auf Tonträger eine wachrüttelnde Renaissance, wovon nicht nur zwei Aufnahmen sämtlicher Klavierwerke zählen, eine bereits realisierte mit Roberto Prosseda (Decca) und eine fest geplante mit Ana-Marija Markovina (Hänssler). Parallel sind in den letzten Monaten mehrere Gesamteinspielungen der fünf Sinfonien erschienen: mit dem Chamber Orchestra of Europe unter Yannick Nézet-Seguin (DG) sowie mit John Eliot Gardiner und Pablo Heras-Casado. Mendelssohns Musik lebt neu auf. Und wie!
Mit dem London Symphony arbeitet John Eliot Gardiner schon lange zusammen. Er hat dem englischen Luxusorchester Spielweisen eingetrichtert, die man sonst nur von Ensembles her kennt, die mit historischen Instrumenten ausgestattet sind. So entsteht bei diesem Mendelssohn-Projekt eine Mischform ohne jeden Ansatz von Kompromissen. Auf modernen Instrumenten spielen die Londoner mit einer Frische und Kontrastschärfe, die Mendelssohns Musik in ihrer ganzen Substanz freilegt.
Das bedeutet zunächst einmal einen kompletten Verzicht auf Süße. Wo diese Werke sonst mit Algarvendicksaft oder sonstigen Zusatzstoffen geradezu überschüttet werden, erweist sich Gardiner als launiger Purist: streng in der Phrasierung, humorvoll bei ausgewählten Details. So gelingen ihm, dem briti- schen Hobby-Landwirt, erdnahe, grundehrliche und aufregende Mendelssohn-Deutungen, sowohl beim „Sommernachtstraum“als auch bei den Sinfonien. Zuletzt erschienen ist die zweite Sinfonie, „Lobgesang“, dieser Zwitter aus Sinfonie und Kantate. Natürlich hat Gardiner für die Chor-Passagen seine eigene Sänger-Crew, den Monteverdi Choir, zur Seite, der die Choräle fabelhaft deklamiert. Das klingt filigran auch im satten Tutti-Miteinander, das klingt hervorragend ausbalanciert und nie verharmlosend.
Ähnliches gilt auch für Pablo Heras-Casado. Der spanische Kunsthistoriker ist als Dirigent inzwischen eine gefragte Größe, vor allem in Freiburg, wo er mit dem dortigen Barockorchester einen bislang wahrhaft aufregenden Mendelssohn-Zyklus aufgenommen hat, jüngst bereichert um Hebriden-Ouvertüre, die fünfte Sinfonie mit dem Beinamen „Reformation“und das Violinkonzert. Der ewig-abgenudelte Geigen-Evergreen wird dem Hörer hier blitzblank neu poliert vor Ohren geführt. Von alter Patina keine Spur. Das liegt zunächst an Isabelle Faust, der Solistin. Unter ihrer Gründlichkeit hat schon manches Standard-Werk eine Verjüngungskur erfahren – so auch hier. Das liegt aber auch an Heras-Casado und den Freiburgern, die jeden Takt auf seinen dramatischen Gestus hin befragen, die sich an Mendelssohn nicht abarbeiten, sondern in ihm einen der aufregendsten Komponisten des 19. Jahrhunderts sehen.
London Symphony, John Eliot Gardiner LSO live SACD+Audio blu-ray LSO0803
Isabelle Faust, Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado; HM CD HMM 902325