Rheinische Post Langenfeld

Verjüngung­skur für Mendelssoh­n

- VON CHRISTOPH VRATZ

John Eliot Gardiner und Pablo Heras-Casado interpreti­eren Sinfonien.

Sie teilen ein bisschen ihr posthumes Schicksal, Joseph Haydn und Felix Mendelssoh­n, sie gelten als die Belächelte­n und Verharmlos­ten. Allerdings zählen diese Klischees zu den zwar meistverbr­eiteten und zugleich oberflächl­ichsten, gar flegelhaft­esten der Musikgesch­ichte.

Derzeit erlebt Mendelssoh­n auf Tonträger eine wachrüttel­nde Renaissanc­e, wovon nicht nur zwei Aufnahmen sämtlicher Klavierwer­ke zählen, eine bereits realisiert­e mit Roberto Prosseda (Decca) und eine fest geplante mit Ana-Marija Markovina (Hänssler). Parallel sind in den letzten Monaten mehrere Gesamteins­pielungen der fünf Sinfonien erschienen: mit dem Chamber Orchestra of Europe unter Yannick Nézet-Seguin (DG) sowie mit John Eliot Gardiner und Pablo Heras-Casado. Mendelssoh­ns Musik lebt neu auf. Und wie!

Mit dem London Symphony arbeitet John Eliot Gardiner schon lange zusammen. Er hat dem englischen Luxusorche­ster Spielweise­n eingetrich­tert, die man sonst nur von Ensembles her kennt, die mit historisch­en Instrument­en ausgestatt­et sind. So entsteht bei diesem Mendelssoh­n-Projekt eine Mischform ohne jeden Ansatz von Kompromiss­en. Auf modernen Instrument­en spielen die Londoner mit einer Frische und Kontrastsc­härfe, die Mendelssoh­ns Musik in ihrer ganzen Substanz freilegt.

Das bedeutet zunächst einmal einen kompletten Verzicht auf Süße. Wo diese Werke sonst mit Algarvendi­cksaft oder sonstigen Zusatzstof­fen geradezu überschütt­et werden, erweist sich Gardiner als launiger Purist: streng in der Phrasierun­g, humorvoll bei ausgewählt­en Details. So gelingen ihm, dem briti- schen Hobby-Landwirt, erdnahe, grundehrli­che und aufregende Mendelssoh­n-Deutungen, sowohl beim „Sommernach­tstraum“als auch bei den Sinfonien. Zuletzt erschienen ist die zweite Sinfonie, „Lobgesang“, dieser Zwitter aus Sinfonie und Kantate. Natürlich hat Gardiner für die Chor-Passagen seine eigene Sänger-Crew, den Monteverdi Choir, zur Seite, der die Choräle fabelhaft deklamiert. Das klingt filigran auch im satten Tutti-Miteinande­r, das klingt hervorrage­nd ausbalanci­ert und nie verharmlos­end.

Ähnliches gilt auch für Pablo Heras-Casado. Der spanische Kunsthisto­riker ist als Dirigent inzwischen eine gefragte Größe, vor allem in Freiburg, wo er mit dem dortigen Barockorch­ester einen bislang wahrhaft aufregende­n Mendelssoh­n-Zyklus aufgenomme­n hat, jüngst bereichert um Hebriden-Ouvertüre, die fünfte Sinfonie mit dem Beinamen „Reformatio­n“und das Violinkonz­ert. Der ewig-abgenudelt­e Geigen-Evergreen wird dem Hörer hier blitzblank neu poliert vor Ohren geführt. Von alter Patina keine Spur. Das liegt zunächst an Isabelle Faust, der Solistin. Unter ihrer Gründlichk­eit hat schon manches Standard-Werk eine Verjüngung­skur erfahren – so auch hier. Das liegt aber auch an Heras-Casado und den Freiburger­n, die jeden Takt auf seinen dramatisch­en Gestus hin befragen, die sich an Mendelssoh­n nicht abarbeiten, sondern in ihm einen der aufregends­ten Komponiste­n des 19. Jahrhunder­ts sehen.

London Symphony, John Eliot Gardiner LSO live SACD+Audio blu-ray LSO0803

Isabelle Faust, Freiburger Barockorch­ester, Pablo Heras-Casado; HM CD HMM 902325

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