Rheinische Post Langenfeld

Der Verführer

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Die neue Idee findet nicht jeder gut, sagt Christian Lindner. Was aber ist seine neue Idee?

che FDP abgewählt worden ist. Auf einmal war die Fünf-Prozent-Hürde für die Partei von Hans-Dietrich Genscher und Theodor Heuss zu hoch. In dieser Stunde, der schwersten der Liberalen überhaupt, bewirbt sich der junge Christian Lindner um den Parteivors­itz. Er, der in der FDP schon vieles war, Abgeordnet­er, Hoffnungst­räger, Generalsek­retär, wollte seine Partei aus der Versenkung holen. Jene Partei, die als Partei der Steuersenk­er, der Hoteliers, gar als Gurkentrup­pe galt. 2012 war Lindner als Generalsek­retär unter dem Vorsitzend­en Philipp Rösler zurückgetr­eten. In einem Sammelband über Rücktritte schreibt er: „Ich hätte sonst meine Seele verloren.“Fünf Jahre später ist die FDP wieder da.

Lindner, der am 7. Januar 1979 in Wuppertal geboren wird, in Wermelskir­chen aufwächst und zur Schule geht, tritt mit 14 in die FDP ein. Ulrich Schäfer, der Lindner von der fünften bis zur 13. Klasse in Mathe unterricht­et, spricht 20 Jahre nach dessen Abitur von einem „normalen Schüler“, einem, der weder faul noch fleißig war, weder laut noch leise. Im Leistungsk­urs, erinnert sich Schäfer, hatte Lindner selten die Hausaufgab­en. Aber wenn er sie dann an der Tafel vorrechnen musste, hatte er keine Probleme.

Im Wahlkampf 2017 steht der FDP-Vorsitzend­e sechs-, sieben-, manchmal auch achtmal am Tag an der Tafel. Er rechnet dann keine linearen Gleichunge­n mehr vor, sondern seine neue Idee von der FDP. In Bergisch Gladbach, Bielefeld, Kassel, Hannover oder Stuttgart spricht er genauso frei wie in Schäfers Matheunter­richt. „Schauen wir nicht länger zu“, sagt er dann. „Denken wir neu“, „Wir brauchen wieder Mut“, „Manchmal muss ein ganzes Land vom Zehner springen“– und: „Die neue Idee findet nicht jeder gut“. Aber was, um Himmels willen, ist eigentlich seine neue Idee?

An jedem zweiten deutschen Laternenpf­ahl hängt ein Plakat, das Lindner mit wachen Augen und fei- nen Zügen zeigt. Ein wenig scheu wirkt er beinahe, ganz wie ein Reh, das die Leute ja auch irgendwie schön finden. Wohl auch deswegen trägt er den Spitznamen „Bambi“. Im Fernsehen sagt er, dass er lieber über Inhalte spricht als über Koalitione­n. Um im nächsten Interview zu erklären, ihm fehle die Fantasie für ein Bündnis aus Union, Grünen und FDP. Lindner spricht derart viel, über Russland und die Krim, über Flüchtling­e, über die Supermacht Bildung und den Breitbanda­usbau, dass man nach vielen Stunden Zuhören und Lesen das Gefühl haben kann, dieser Mann steht für alles. Und für nichts.

Der Vorsitzend­e hat seine Partei neu angestrich­en. Aber viele Inhalte sind aus der grauen Vergangenh­eit geblieben. Bürokratie­abbau, zum Beispiel, oder Steuersenk­ungen. Lindner spricht davon indes nicht mehr so viel, sondern deutlich lieber von Bildung oder der digitalen Gesellscha­ft. Die Risiken des Internets, Gefahren für Bürgerrech­te oder von Cyberkrimi­nalität lässt der FDP-Chef oft aus. Wenn es um Bürgerrech­te geht, um Freiheit, zitiert Lindner gern den 84-jährigen früheren Justizmini­ster Gerhart Baum. Lindner liebt die Provokatio­n, etwa als er sich harsch zu Flüchtling­en äußerte oder empfahl, die Annexion der Krim „zunächst als dauerhafte­s Provisoriu­m“zu betrachten.

Im Alter von 14 Jahren trifft Christian Lindner nicht nur die Entscheidu­ng, in die Politik zu gehen, sondern noch eine andere. Fast 100 Kilo hat er da gewogen, hat er der „Bunten“erzählt. Und nach einem halben Jahr Joggen und Knäckebrot hat er endlich sein Ziel erreicht: schlank sein. So wie er sich vom Übergewich­t befreit hat, so hat er seine Partei vom sichtbaren Muff befreit. Es ist das Menschenbi­ld von Christian Lindner, das sich daraus ableitet. Jeder ist seines Glückes Schmied. „Niemand ist geboren worden und war bei Geburt überflüssi­g“, sagt er schon mal in seinen Reden. Gibt es in der Welt des Liberalen also Menschen, die sich in ihrem Leben überflüssi­g gemacht haben?

Während des Abiturs macht Lindner sich selbststän­dig, gründet eine PR-Agentur. „Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt, der andere packt sie an und handelt“, sagt der Anzug tragende Lindner in einem wieder aufgetauch­ten Video. 2000 gründet er das nächste Unternehme­n, ein Jahr später ist es insolvent. Lindners Geschichte, jedenfalls die, die Lindner erzählt, ist auch eine des Wiederaufs­tiegs. Der Selfmadema­n spricht erstaunlic­h oft von Emmanuel Macron, dem französisc­hen Präsidente­n. Vergleiche­n will er sich aber nicht mit ihm. Er fürchtet den Vorwurf des Größenwahn­s.

Während Angela Merkel erzählt, dass sie ihre Kartoffels­uppe eher stampft als püriert, und Martin Schulz, dass er Alkoholike­r und Buchhändle­r war, erzählt Christian Lindner kaum etwas über sich. Er findet das nicht wichtig. „Ihr wählt mich nicht wegen meiner Kartoffels­uppe, sondern als euren Problemlös­er, als Anwalt eures Lebensgefü­hls“, sagt er. Nur die Geschichte vom Scheitern seiner Firma erzählt Lindner gern, vielleicht, weil sein Weg dann steiniger erscheint.

Lindner (Lieblingst­ugend: Toleranz), der im Rampenlich­t wirkt, als sei er Ritter Christian, mit einer Rüstung und scharfen Worten als Waffe, als sei das Leben ein Kampf, in dem der Aggressivs­te obsiegt, legt all das in seinem Büro im Landtag ab. Er brüllt nicht mehr wie auf der Bühne, betont die Konsonante­n nicht mehr wie im Fernsehen. Es kehrt Ruhe in den Mann, der sich seit vier Jahren im Wahlkampf befindet. Er antwortet ohne Zögern auf die Frage, was geschehen würde, wenn er, der ja die Partei ist, plötzlich krank wäre: „Dann käme jemand anders.“

Die Jungen, die Lifestyle mit Persönlich­keit verwechsel­n, strömen zu diesem Mann. Den Anderen verspricht Lindner, sie in Ruhe zu lassen, und ein Leben nach dem Prinzip Eigenveran­twortung. Den amerikanis­chen Traum. Christian Lindner sagt: Alles, was dir gelingt, hast du selbst geschafft. Er meint auch: Alles, was dir nicht gelingt, hast du selbst vertan.

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FOTO: IMAGO

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