Rheinische Post Langenfeld

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HANNOVER Am Sonntag beginnt der Kongress der IG BCE in Hannover. Michael Vassiliadi­s, der mächtige Chef der Gewerkscha­ft Bergbau, Chemie, Energie, tritt wieder an. Werden Sie dort wie Martin Schulz beim SPD-Parteitag mit 100 Prozent der Stimmen gewählt? VASSILIADI­S (lacht) Das schafft nur die SPD... ...in der Sie selbst Mitglied sind. Wie haben Sie das Ergebnis der Bundestags­wahl verkraftet? VASSILIADI­S Die SPD ist ja aus den vergangene­n Wahlen Kummer gewohnt, aber wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem die Handlungs- und Sprachfähi­gkeit der Partei ernsthaft infrage stehen. Das Ganze macht mich schon nachdenkli­ch – aber nicht nur mit Blick auf die SPD, sondern auf das gesamte Parteiensy­stem. Wie erklären Sie sich den Absturz? VASSILIADI­S Die Linksparte­i hat sich etabliert – auch wenn sie immer noch nicht mit ihrer kommunisti­schen Vergangenh­eit gebrochen hat. Immerhin sympathisi­eren dort einige mit dem System in Venezuela und relativier­en den Krieg von Herrn Putin. Die Linke nagt von der einen Seite an der SPD. Und auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Protestwäh­ler, die auch von der SPD zur AfD abgedrifte­t sind. Zugleich vermittelt die Union den Eindruck, eher linke Themen zu regeln. Auffällig ist, dass überpropor­tional viele Gewerkscha­fter AfD gewählt haben. Laut Forschungs­gruppe Wahlen 15 Prozent. Woran liegt das? VASSILIADI­S An klassische­n Arbeitnehm­erthemen kann es nicht liegen, denn da hat die AfD rein gar nichts zu bieten. Die Partei fällt bislang ja einzig dadurch auf, dass sie den Ausländern vieles missgönnt, was eigentlich alle erhalten. Wir haben unsere Mitglieder unlängst zu ihrem Wahlverhal­ten befragt. Ein Ergebnis: Je mehr Ordnung die Menschen in der Arbeit haben - Tarifvertr­äge, Betriebsrä­te, vernünftig­e Löhne -, desto weniger empfänglic­h sind sie für Protestpar­teien. Aber es gibt auch politisch geschaffen­e Unsicherhe­it. Nehmen Sie die Braunkohle­gebiete: Dort ist die Zukunft der Region unklar, dort bangen die Menschen um ihre Jobs und haben das Gefühl, niemand hört ihnen zu. Ein Gefühl, das sich noch verstärken könnte. Schließlic­h wollen die Grünen einen schnellen Ausstieg aus der Braunkohle – und den könnten sie per Jamaika-Bündnis vorantreib­en. VASSILIADI­S Die Grünen haben sich in der Opposition radikalisi­ert und sind zu einer Ausstiegsp­artei geworden – nach Atomkraft wurde die Braunkohle zum Feind Nummer eins erklärt und neuerdings auch noch der Verbrennun­gsmotor. Ich hoffe, dass mit dem KampagnenM­odus Schluss ist, wenn sie sich ernsthaft in eine Regierung einbringen. Die Forderung der Grünen lautet, die dreckigste­n 20 Kraftwerke sofort abzuschalt­en. Union und FDP könnten bei der ohnehin unpopuläre­n Braunkohle Zugeständn­isse machen, um etwa ein Entgegenko­mmen beim Diesel zu erreichen. VASSILIADI­S Ich kann nur davor warnen, es zu solchen Deals kommen zu lassen. Ein derart profanes Geschacher­e wäre ein fatales Signal für die Jamaika-Konstellat­ion. Würde man 20 Braunkohle­kraftwerke auf ein- mal aus dem System nehmen, wären alle Gruben sofort unwirtscha­ftlich. Die wegfallend­en Kapazitäte­n müsste man durch das Hochfahren deutlich teurerer Gaskraftwe­rke kompensier­en. Für einige energieint­ensive Industrien wären diese höheren Kosten aber durchaus existenzbe­drohend. Hinzu kommt, dass man größere Netzschwan­kungen in Kauf nehmen müsste. Was würden Sie tun, wenn sich die Grünen durchsetze­n könnten? VASSILIADI­S Es ist zu früh, darüber zu spekuliere­n. Die potenziell­en Partner haben die Reise nach Jamaika ja noch nicht einmal angetreten. Wir werden das Ganze natürlich aufmerksam verfolgen und unsere guten Argumente, wenn es sein muss, auch lautstark einbringen. Auf Eines will ich aber schon mal hinweisen: Keines unserer Mitglieder darf durch politische Entscheidu­ngen arbeitslos gemacht werden. Wer bestellt, muss auch bezahlen. Dafür muss der Staat dann Geld bereitstel­len. Gleiches gilt für Investitio­nen in den betroffene­n Regionen. In der Lausitz beispielsw­eise müssten massiv Autobahnen und Bahnlinien ausgebaut und im großen Stil Industrief­lächen ausgewiese­n werden. Mit noch mehr Nagelstudi­os werden wir jedenfalls keine Alternativ­en für die Bergleute schaffen. Der Sachverstä­ndigenrat für Umweltfrag­en hat eine Obergrenze für den Ausstoß an Treibhausg­asen, den Kohlekraft­werke in Deutschlan­d überhaupt noch produziere­n dürfen, gefordert. Guter Plan? VASSILIADI­S Nein, denn er folgt dem bekannten Muster deutscher Klimapolit­ik: haarklein vorgegeben­e Abschaltzi­ele durchsetze­n zu wollen. Wer weitere Kraftwerke vom Netz nehmen und Ausstoßobe­rgrenzen festlegen will, der muss gleichzeit­ig Alternativ­en präsentier­en, wenn das System nicht kollabiere­n soll. Und da höre ich seit Jahren herzlich wenig. Klar ist: Die Erneuerbar­en werden uns noch über Jahrzehnte nicht allein versorgen können. Kommen wir zur Tarifpolit­ik. Die IG Metall verlangt gerade eine Absenkung der Arbeitszei­t auf 28 Stunden. Wäre das nicht was für Ihre nächste Tarifrunde? VASSILIADI­S Wir haben ein vergleichb­ares Modell gerade für die Chemieindu­strie in Ostdeutsch­land vereinbart – mit einer Arbeitszei­t, die je nach Lebenssitu­ation zwischen 32 und 40 Stunden schwanken kann. Es ist denkbar, dass wir das Thema im kommenden Sommer auch im Westen angehen. Es gibt aber noch ein weiteres Betätigung­sfeld: Menschen, die zu Hause oder unterwegs arbeiten. Für die müssen wir auch tarifliche Rahmenbedi­ngungen festlegen. Die Arbeitgebe­r verlangen regelmäßig, dass das Arbeitszei­tgesetz aufgeweich­t wird – zum Beispiel bei den Ruhezeiten. VASSILIADI­S Ich wundere mich, dass gleich zu Beginn der Debatte um eine neue Arbeitszei­tpolitik das Aufweichen von Schutzrech­ten verlangt wird. Die Arbeitgebe­r sollen zunächst mal plausible Beispiele liefern, für welche Fälle konkret man eine Abweichung von der Ruhezeit benötigt. Ohne Notwendigk­eit sollten wir das Gesetz so belassen, wie es ist. Es gibt wichtigere Baustellen. Zum Beispiel die Tarifbindu­ng. Die nimmt seit Jahren ab. Wie wollen Sie das ändern? VASSILIADI­S Es stimmt. Es wird für uns immer schwierige­r, die Menschen zu organisier­en. Wir DGB-Gewerkscha­ften müssen die Gebietskäm­pfe untereinan­der aufgeben und uns wieder mehr den Beschäftig­ten widmen. Da gibt es viele Mitarbeite­r, die zwar Tariferhöh­ungen mitnehmen, aber selbst nicht Gewerkscha­ftsmitglie­der sind. Die müssen wir gezielter ansprechen. Zugleich müssen wir den Druck auf die Arbeitgebe­rverbände erhöhen, dass sie die unsägliche Praxis der OT-Mitgliedsc­haften beenden. Sie sprechen hier von der Möglichkei­t, als Unternehme­n in einem Arbeitgebe­rverband Mitglied zu sein, ohne aber den Flächentar­ifvertrag zu zahlen. VASSILIADI­S Genau. Da kopieren Manager ganz dreist unsere hart erstritten­en Tarifvertr­äge aus dem Internet, ändern sie nach ihrem Gusto und wenden sie dann in abgespeckt­er Version in ihrem Unternehme­n an. Für mich ist das vergleichb­ar mit einer Urheberrec­htsverletz­ung. Jeder 15-Jährige, der ein Videospiel raubkopier­t, wird hart bestraft, OTUnterneh­men kommen damit davon. MAXIMILIAN PLÜCK FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTO: DANIEL PILAR/IG BCE

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