Rheinische Post Langenfeld

Numerus clausus auf dem Prüfstand

- VON LISA KREUZMANN UND EVA QUADBECK

BERLIN Schon seit Jahren ist bei Ärzten, Patienten und Gesundheit­spolitiker­n die Erkenntnis durchgesic­kert, dass ein 1,0-Abitur nicht zwingend die besten Ärzte hervorbrin­gt. Im Gegenteil: Wer ein Einser-Abitur macht, hat häufig auch hohe berufliche Ziele, möchte in die Wissenscha­ft einsteigen oder zumindest in einer Universitä­tsklinik arbeiten. Um junge Menschen für den Beruf des Landarztes zu begeistern, der auf dem Dorf lebt, viele alte Menschen betreut und sich im Fall der Fälle auch mit der Arzttasche bei Wind und Wetter zu seinen Patienten bewegt, dafür muss man die Medizinstu­denten breiter aussuchen. Doch das geschieht zu wenig.

Die Ärzteschaf­t drängt schon seit Jahren auf eine Reform: „Wir brauche nicht nur hoch lernfähige, wissenscha­ftlich orientiert­e, potenziell­e Nobelpreis­träger, sondern wir brauchen auch gute Ärzte, die sich durch soziale Kompetenz auszeichne­n und auch bereit sind, aufs Land zu gehen“, sagt Ärztepräsi­dent Frank-Ulrich Montgomery.

Aus Sicht der jungen Menschen, die den Arztberuf ergreifen wollen, ist das aktuelle Auswahlsys­tem ebenfalls ungerecht. Zumal für ein Einser-Abitur in diesem Bundesland weniger oder zumindest anderes geleistet werden muss als in jenem Bundesland. So gehen jedes Jahr tausende Bewerber für das Medizinstu­dium leer aus. Aktuell können nur knapp 20 Prozent der Bewerber pro Studienjah­r angenommen werden.

Wer heute Medizin studieren möchte, brauchte zum aktuellen Winterseme­ster 2017/2018 laut Stiftung für Hochschulz­ulassung in 14 Bundesländ­ern ein Abitur mit einem Schnitt von 1,0. In Niedersach­sen und SchleswigH­olstein reichte ein Schnitt von 1,1. 20 Prozent der Plätze fürs Medizinstu­dium werden von den Ländern vergeben. Weitere 20 Prozent erhalten die Be- werber mit den längsten Wartezeite­n. Zum aktuellen Semester wurden laut Stiftung für Hochschulz­ulassung diejenigen zum Studium zugelassen, die 14 Semester Wartezeit vorweisen konnten und deren Abiturnote zudem 2,6 oder besser war. Die restlichen 60 Prozent vergeben die Hochschule­n nach eigenem Auswahlver­fahren. Die Unis können dabei den Medizinert­est, eine Berufsausb­ildung oder auch ein Auswahlges­präch berücksich­tigen. Die Kriterien der Hochschule­n sind allerdings unterschie­dlich. Viele Unis wählen schlicht nach Abiturnote aus. Nun befasst sich das Bundesverf­assungsger­icht nach mehr als 40 Jahren erneut mit der Frage, ob das aktuelle Auswahlsys­tem den Kriterien des Grundgeset­zes standhält. Geklagt hatten zwei Studienpla­tzbewerber, die wegen ihrer Noten fürs Medizinstu­dium abgelehnt wurden. Ein 26-jähriger Hamburger mit Ausbildung zum Rettungssa­nitäter und bestandene­m Medizinert­est in der Tasche und eine 27jährige ausgebilde­te Krankenpfl­egerin aus Schleswig-Holstein. Nach Ansicht der Gelsenkirc­hener Kammer darf die Wartezeit auf einen Studienpla­tz nicht zu lange sein. Auch Bewerber mit schlechter­em Abiturschn­itt müssten eine realistisc­he Chance auf ein Medizinstu­dium bekommen, heißt es im Ruhrgebiet.

Das Bundesverf­assungsger­icht in Karlsruhe will entscheide­n, ob das mehrgliedr­ige Vergabever­fahren nach Abi-Noten, Wartezeite­n und hochschuli­nternen Vorgaben mit dem Grundgeset­z vereinbar ist. Grundlage für die Verhandlun­g ist eine Vorlage des Verwaltung­sgerichts Gelsenkirc­hen. Die Gelsenkirc­hener sind bundesweit für alle Verfahren gegen die Stiftung für Hochschulz­ulassung zuständig. Die Richter dort bezweifeln, dass die Vergabe verfassung­skonform ist. Je nach Ausgang des Urteils kann das auch weitreiche­nde Konsequenz­en für andere beliebte Studienfäc­her wie Jura haben.

Dabei geht es auch um die Gerechtigk­eitsfrage: Ist es vertretbar, dass derjenige, der in der Schule fleißig lernt, auch einen begehrtere­n Job machen darf? Oder muss die Justiz nicht vielmehr bei der Berufswahl die Chancenger­echtigkeit betonen und gleiche Ausgangsvo­raussetzun­gen für den Karrierest­art schaffen? Der Vizepräsid­ent des höchsten Gerichts, Ferdinand Kirchhof, sprach von einem „Knappheits­problem, das die berufliche Lebensplan­ung junger Menschen gravierend betrifft“. Das Urteil darf mit Spannung erwartet werden: Bei einer Entscheidu­ng der Verfassung­srichter zugunsten der Kläger müssten die Regeln für die Vergabe wohl überarbeit­et werden.

Dann wäre es wieder einmal das Verfassung­sgericht, das eine Reform anschiebt, die von der Politik auf die lange Bank geschoben wurde. Die Bundesregi­erung hat in diesem Jahr einen „Masterplan Medizinstu­dium 2020“vorgelegt. Ziel von Gesundheit­sminister Hermann Gröhe (CDU) ist es, die Allgemeinm­edizin und die kommunikat­iven Kompetenze­n der Ärzte zu stärken. Der Plan sieht auch eine Landarztqu­ote vor, nach der die Länder künftig zehn Prozent der Bewerber um einen Medizinstu­dienplatz bevorzugt zulassen können. Für diese Bewerber zählt dann nicht mehr die Abi-Note. Sie müssen sich aber verpflicht­en, die ersten zehn Jahre als Hausärzte in einer unterverso­rgten Region zu arbeiten. Das Problem am Masterplan: Er ist kein Gesetzeswe­rk, sondern eine Kann-Vorschrift.

Den Ärzten schweben noch weitere Reformen vor. Sie fordern etwa bundesweit 1000 zusätzlich­e Studienplä­tze und eigene Assessment-Center, in denen die Medizinstu­denten ausgewählt werden. „Dort sollten fachliche und menschlich­e Voraussetz­ungen für den Arztberuf geprüft werden“, sagte Montgomery. Die Einführung solch aufwendige­r Auswahlver­fahren wäre wiederum mit hohen Kosten für die Universitä­ten verbunden. Klar aber ist, dass die Vergabe von Medizin-Studienplä­tzen nur dann sinnvoller und gerechter werden kann, wenn es dafür verbindlic­he Regeln gibt.

„Wir brauchen auch gute Ärzte, die sich durch soziale Kompetenz

auszeichne­n“Frank-Ulrich Montgomery, Ärztepräsi­dent

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