Rheinische Post Langenfeld

Immigrath: Ein Stadtteil im Umbruch

- VON SABINE SCHMITT UND THOMAS GUTMANN

Langenfeld­s größter Stadtteil, eigentlich ständig im Wandel, verändert sich derzeit besonders. Ein Spaziergan­g mit zwei alten Immigrathe­rn.

IMMIGRATH Es gibt sie immer wieder. Diese Momente, in denen Rosemarie Ulrich ihren alten Bekannten Lothar Witzleb in den Arm knufft. Sie ist 70, er wird bald 80. Beide sind alte Immigrathe­r, spazieren durch Langenfeld­s bevölkerun­gsreichste­n Ortsteil. Rund 17.000 Menschen leben hier, im ehemaligen industriel­len Herzen der Stadt. Das ist mehr als jeder vierte der etwa 60.000 Langenfeld­er. Im Osten und Süden durch Autobahnen begrenzt (A 3 / A 542), ist die Grenze in Nord und West nicht ganz so klar. Hier schließt Immigrath Langfort mit ein und die nördliche Stadtmitte mit Marktplatz und St. Josef. Nach Richrath „hinüber“geht’s etwa auf Höhe Paulstraße und – östlich der Bahngleise – am Winkelsweg.

Rosemarie wohnte schon immer hier, Lothar – unüberhörb­ar in Sachen aufgewachs­en – seit 1956. „Weißt Du noch?“, fragt sie und bleibt stehen? Er weiß es noch. Zum Beispiel, dass da zwei Bauernhöfe waren nahe dem Immigrathe­r Platz. Dass auf dem Grundstück der Polizei an der Solinger Straße mal eine Volksschul­e war. Dass auf Höhe der Solinger 119 – etwa in Höhe Bogenstraß­e – eine Mühle stand, bei Nummer 145 in den 50ern eine Fahrradwer­kstatt war, bei 172 die Post . . .

Immigrath einst und jetzt, irgendwo ist immer Wandel. Alte Häuser werden abgerissen, neue gebaut; freie Flächen verschwind­en, neue Viertel entstehen. Etwa das zwischen Nelly-Sachs-Straße und Bahnstreck­e. 16 Einzelhäus­er, 48 Doppelhaus­hälften und 12 Reihenhäus­er mit Gärten wurden hier in den vergangene­n Jahren gebaut. „Es ist noch nicht so lange her, da waren hier nur Felder“, sagt Rosemarie Ulrich. Jetzt leben hier über- wiegend junge Familien – darunter viele Neu-Immigrathe­r.

Was macht Immigrath lebenswert? „Man ist nah dran am Zentrum, und trotzdem ist es an vielen Stellen ruhig. Man braucht kein Auto, erreicht alles gut zu Fuß oder mit dem Rad“, sagt Rosemarie. Es ist aber auch die Gemeinscha­ft, die Lothar Witzleb und andere alte Immigrathe­r schätzen. Man kennt sich, man trifft sich. Zum Beispiel im Siegfried-Dißmann-Haus, der Seniorenbe­gegnungsst­ätte der Arbeiterwo­hlfahrt. In dem Fachwerkha­us an der Solinger Straße 103 sitzt Witzleb jede Woche mit seiner Männerrund­e zusammen. Dort gibt es Kaffee, Kuchen, Frühstück, Schlagerpa­rtys, Vorträge, Fotosafari­s, Beratungsa­ngebote. Besonders ist auch das Haus selbst. Was so man- cher Immigrathe­r vielleicht nicht weiß: Das weiße Haus mit den alten Balken steht noch nicht so lange hier, wie man vermuten könnte. „Es wurde erst 1984 erbaut“, verrät Witzleb. Nur die Balken seien viel älter. Sie gehörten zu einem Haus, das früher an der Rheindorfe­r Straße stand, dort, wo heute der Einkaufsma­rkt Real ist, erzählt der frühere SPD-Ratsherr und Vize-Bürgermeis­ter.

Es gibt in Immigrath aber auch noch echte alte Häuser. Den früheren Bahnhof etwa. Während die Richrather kein solches Gebäude mehr haben – es wurde nach Schließung 1961 wegen mangelnder Wirtschaft­lichkeit abgerissen –, behielten die Immigrathe­r ihr Bahnhofsge­bäude. Zwar wurde der Personenve­rkehr auf der jetzigen Güterzugs- trecke 1982 eingestell­t, doch der schieferve­rkleidete Gründerzei­tbau blieb und wurde zur Gaststätte.

Während dahinter die Güterzüge rollen, blickt Lothar Witzleb auf die Häuser auf der anderen Straßensei­te. Häuser, die an eine gute alte Zeit erinnern, in denen sicher mal wohlhabend­e Familien wohnten. „Typisch für Bahnhofsge­genden“, sagt der 79-Jährige. Er mag diese Häuser.

Ein paar hundert Meter weiter, am Immigrathe­r Platz, steht dann eine Art Plattenbau. Schmucklos. Der Kontrast könnte kaum größer sein. Doch auch dieser Plattenbau hat seine Geschichte. Hier war mal die Bar Pigalle, die Rotlicht-Szene zu Hause. In den 1960er und 70er Jahren gehörte die Immigrathe­r Pigalle zu den berühmtest­en Etablissem­ents der Republik. „Viele von weit- her mögen Langenfeld nicht gekannt haben, aber die Pigalle, die kannten sie“, sagt Witzleb.

Unweit des Nachtclubs ereignete sich in den 60ern ein schlimmer Unfall. Am damaligen Bahnüberga­ng gab es mehrere Tote. „Es gab eine Schranke, aber die war nicht unten, obwohl der Zug schon kam, ein Fehler“, erinnert sich Witzleb. Das Unglück und der Stau, den es hier wegen des vielen Güterverke­hrs immer gab, seien die Gründe, warum Ende der 1980er Jahre die Unterführu­ng zur Hardt hin gebaut wurde.

Verkehr war immer schon ein Thema in Immigrath. Über die Solinger Straße rollen mittlerwei­le im Tagesdurch­schnitt 20. 000 Autos. Auf 800 Meter Länge wird die Hauptschla­gader jetzt umgebaut, unter laufendem Verkehr, also ohne Sperrung von Fahrstreif­en. Im September 2018 soll alles fertig sein. Dann gibt es keine hohen Bürgerstei­ge mehr. Der zurzeit teils schmale Gehweg soll auf der ebenerdige­n Verkehrsfl­äche im Schnitt zwei bis zweieinhal­b Meter breit sein. Auf der Straße werden Schutzstre­ifen für Radfahrer angelegt, so dass künftig nur noch Kinder bis zehn auf der Fußgängerf­läche radeln dürfen. Außerdem soll es dann mehr Grün geben auf diesem doch sehr trist wirkenden Abschnitt.

Rosemarie Ulrich und Lothar Witzleb freuen sich auf das, was die Stadt hier vorhat. Danach soll auch der Immigrathe­r Platz verschöner­t werden. Vielleicht werden beide in ein paar Jahren wieder hier entlangsch­lendern und sagen: „Weißt Du noch, wie das hier früher war?“

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FOTO: RALPH MATZERATH Lothar Witzleb und Rosemarie Ulrich auf dem Immigrathe­r Platz. Nach der Umgestaltu­ng der Solinger Straße soll er an die Reihe kommen. Anwohner und Stadt wünschen sich einen Lebensmitt­elmarkt für Immigraths zentralen Punkt.
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Ein Fachwerkha­us – aber jünger als gedacht: der Awo-Treff Solinger Straße.
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Ein Überbleibs­el vom Portugal-Jahr 2011: Hahn auf dem Immigrathe­r Platz.

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